Schreiben von Anfang an

Lichtmaschinengeschichten

Schreiben im Rahmen eines individuell kompetenzorientierten Erst- und Zweitsprachenunterrichts in der Primarstufe

Es kommt auf vier Rädern und steht in fast jedem Klassenzimmer im Weg, weil es mit einer langen Schnur an der Wand hängt. Es schnauft und macht warme Luft, und ist für Erwachsene doch bloß ein Relikt aus einer vergangenen Zeit. Der Overheadprojektor, der in der DDR den schnittigen Namen "Polylux" hatte und sogar noch in Marion Bergks Deutschdidaktik-Klassiker "Rechtschreibenlernen von Anfang an" in der Vorwendezeit mit dem bemüht deutschen Wort "Tageslichtprojektor" bezeichnet wurde, ist ganz großes Kino für unsere VolksschülerInnen von heute. 

Das Gerät zaubert mit einem Spiegel sattes weißes Licht an die Wand und LehrerInnen legen durchsichtige Blätter darauf, um in den ersten Wochen der Schuleingangsphase "gezirkelte" Buchstaben in Zeilen zu schreiben. Es bringt alle SchülerInnen zum Lachen, denn egal wie sehr sich LehrerInnen darum bemühen, sich beim Schreiben wegzuducken, ihre Körper werfen unweigerlich riesige Schatten auf die Wände. Das Ding ist eine echt wunderbare Lichtmaschine, die wirklich Spaß macht.


Ein für Schulkinder derart erheiterndes Gerät soll doch mehr hergeben können, als das bloße Visualisieren von Sachverhalten. Für den strikt schulischen Gebrauch bietet es sich an, lizensiert erworbene Kinderliteratur auf Overheadfolien zu kopieren, um sie im Klassenraum zu projizieren. SchulanfängerInnen können im Plenum bei Büchern "mitlesen", die neben Ganzwörtern Symbolbilder zeigen. Wird in einem Satz beschrieben, dass hinter einem gezeichnetem Haus etwas wächst, das mit den Bildsymbolen für "Apfel" und "Baum" angegeben wird, lässt sich für SchulanfängerInnen nichtdeutscher Muttersprache schon mal ganz natürlich demonstrieren, wie durch das simple Anhängen von Namenwörtern, deutsche Wörter zusammenwachsen, die in diesem Fall zu einander gehören: Hinter dem Haus steht folglich ein "Apfelbaum".


Das ist schon mal was für das kleine Volk, das im Wort "Volksschule" gemeint ist, aber noch lange nicht alles. Die in Österreichs Lehrerzimmern mittlerweile (zurecht) weltberühmte Marlene Walter führt mit ihren Ideen für das Schreibenlernen in der Volksschule einen Weg weiter, den Marion Bergk in der Folge von Célestin Freinet gegangen ist: Der Sinn für das Schreiben wird in den Schulkindern geweckt, wenn sie emotional davon betroffen sind, von dem was sie schreiben. 


Schreiben soll für sie selbst Sinn machen und sie sollen erfahren, dass es für andere Sinn macht, sich schriftlich mitzuteilen. In anderen Worten: Der Schlüssel zum Erfolg liegt in einem individuell kompetenzorientierten Deutschunterricht. Es bleibt einzig noch einzuräumen, dass bildungsferne Schichten mitunter zu Sprachlosigkeit neigen, die sich (leider) in ihren Kindern widerspiegelt und ihr Vermögen für den persönlichen Ausdruck hemmt. 


"Bildungsferne" ist auch häufig bei SchulanfängerInnen mit Migrationshintergrund zu konstatieren, die eine andere als die deutsche Sprache als Erstsprache sprechen. Hier stellt sich die Frage, ob es eigentlich zwingend notwendig und pädagogisch sinnvoll ist, ein Kind nichtdeutscher Erstsprache in Deutsch zu alphabetisieren, wenn das Herz doch für eine andere Mutter-Sprache schlägt und es diese auch tatsächlich besser spricht. 

Die mehrsprachige Vielfalt in deutschsprachigen Ballungsräumen wird im Grundschulbereich nur respektiert, wenn diese Mehrsprachigkeit tatsächlich bewusst gelebt wird.


Keiner weiß das so gut wie einer der im Wiener Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus unterrichtet und mächtig viel Ahnung vom Erbe Célestin Freinets hat, ohne allzu großen Respekt zu haben, der hinderlich sein könnte. Christian Schreger führt in der Volksschule Ortnergasse eine Freinet-Mehrstufenklasse, in der mehr als achtzig Prozent der SchülerInnen eine nichtdeutsche Erstsprache sprechen. Schreger gründete im Herbst 2005 das Projekt "Kleine Bücher", bei dem Kinder ihre eigenen kurzen Geschichten schreiben und bebildern.


"Die Vielschichtigkeit einer Mehrstufenklasse benötigt klare Projektrahmen, die auf unterschiedliche Lernebenen angewandt werden können", erläutert Schreger eingangs zu seinem Projekt, "Dabei steht eine klare Struktur im Vordergrund, die für alle beteiligten Kinder unterschiedlichen Alters nachvollziehbar ist. Die 'Kleinen Bücher' stellen ein solches Konzept zur Verfügung: 5 Texte, 5 Bilder, 1 Umschlag. Am Ende steht ein fertiges Produkt zur Verfügung, das als 'Kleines Buch' einer Familie anderer 'Kleiner Bücher' angehört. Unabhängig von Muttersprache, Lernjahr und Thema verdeutlicht es die Leistung des/der AutorIn und bietet dabei durch Text und Bilder einen mehrdimensionalen Zugang zum Inhalt. Der überschaubare Arbeitsaufwand macht Mut sich darauf einzulassen. Muttersprachliche Texte erhalten in Zusammenarbeit mit den beteiligten LehrerInnen eine Übersetzung, die die Sprachen dann auch grafisch einander gegenüber stellt."(vgl. Schreger 2005: Kleine Bücher)


Die Grundidee von Schregers Projekt war es, mit den kleinen Büchern einen Prozess in Gang zu bringen. Ihm ist der Prozess wichtig, nicht das Ergebnis.


Die "Kleinen Bücher" kann man machen, kaufen kann man sie aber nicht. Schreger verweigert sich damit der Ökonomisierung seines erfolgreichen SchülerInnen-Projekts, über das er Vorträge an der Pädagogischen Hochschule Wien hält. Das ist ihm hoch anzurechnen. (Der Ökonomisierung und Standardisierung der Institution Schule und ihrer SchülerInnen ist ohnehin an allen Ecken und Enden mit aller Kraft entgegenzuwirken. VolksschülerInnen sind nicht wie Industriehühner in Legebatterien für den Kapitalismus vorzubereiten. Es sind junge Menschen, die in den ersten vier Jahren ihrer schulischen Erziehung den Mut und die Zuversicht entwickeln sollen, die Welt einmal in ihre eigene Hände zu nehmen.)


"5 Texte, 5 Bilder, 1 Umschlag" - Dieser überschaubare Rahmen, der von Schregers SchülerInnen oft erprobt wurde, spiegelt sich in den Lichtmaschinengeschichten der SchülerInnen der Volksschule Darwingasse wider. SchülerInnen erzählen in ihren Erst- und Zweitsprachen Geschichten, die sie auf Overheadfolien festhalten. Auf der oberen Blatthälfte das Bild, darunter der Text. Ein Umschlag aus Papier umfasst die durchsichtigen Blätter, die an allen Orten mit Lichtmaschinen wirkungsvoll projiziert werden können. Die nummerierten Folien werden zur sicheren Verwahrung zusätzlich eingescannt.


Hier unten zu sehen sind drei Seiten aus der fünfseitigen "Autobiografie" eines Tafelklässlers nach vier Wochen Unterricht. Auf diesen drei Seiten hat er seinen Namen nicht explizit geschrieben. Bild und Text korrelieren, aber es bedarf immer der Nachfrage bei dem Autor, um zu erfahren, was hier erzählt wird:


"2. Blatt:
Bild: E. surft auf dem Meer.
Text: Ich liebe schwimmen.

3. Blatt: 
Bild: E. spielt auf der Wiese Fußball.
Text: Ich kann Fußball spielen.


4. Blatt:
Bild: E. steht bei seiner Mutter. Dazwischen steht ein Sessel.
Text: Ich mag Semmeln."













Literatur

Bergk, Marion (1987). Rechtschreibenlernen von Anfang an. Kinder schreiben ihre ersten Lesetexte selbst. Frankfurt/M.: Diesterweg 1996, 5. Aufl. 

Heuck, Sigrid (2007). Alle Abenteuer: Pony, Bär und Apfelbaum / Pony, Bär und Abendstern / Pony, Bär und Papagei / Pony, Bär und Schneegestöber. Berlin: CBJ Verlag


Schreger, Christian (2005). Kleine Bücher. http://ortnergasse.webonaut.com/m2/projekte/pdf/kb.pdf, (01.10.2013)