Wie werden Wiener DaZ-SchülerInnen im Pflichtschulsystem von heute beschult und wo ist da der Wurm drin?

Wie werden Wiener DaZ-SchülerInnen im Pflichtschulsystem von heute beschult und wo ist da der Wurm drin?


Wer Deutsch in einem nicht-deutschsprachigen Land in einem schulischen Umfeld lernt, erwirbt Deutsch als Fremdsprache (DaF). Wer in einem deutschsprachigen Land Deutsch als Erstsprache von Geburt an im natürlichen Umfeld lernt und später im schulischen Umfeld weitere Kenntnisse erwirbt, kennt Deutsch als Muttersprache (DaM).
Wer eine andere Erstsprache (Language 1, abgekürzt: L1) hat und Deutsch als zweite Sprache (Language 2, abgekürzt: L2) in einem deutschsprachigen Land in einem natürlichen Umfeld und später in einem schulischen Umfeld erwirbt, lernt Deutsch als Zweitsprache (DaZ).

In Wien gibt es vielfältige Möglichkeiten, DaZ-SchülerInnen zu alphabetisieren. Im Großteil der Wiener Volksschulklassen der ersten Schulstufe werden DaZ-SchülerInnen generell im Klassenverband unterrichtet und in deutscher Sprache (als der Mehrheitssprache Österreichs) alphabetisiert. 

Die DaZ-SchülerInnen folgen dem regulären Unterricht und werden nur punktuell während des Unterrichts in der Unterrichtssprache Deutsch gefördert. Wenn DaZ-VolksschülerInnen in Wien mit schlechten Sprachkenntnissen auch nicht die motorischen, kognitiven und sozialen Kompetenzen für die Schulreife besitzen, werden sie wie jedes andere DaM-Volksschulkind behandelt und bis spätestens Ende Mai des jeweils laufenden Schuljahres als Vorschulkind neu bewertet und eingestuft und im Folgejahr als SchülerIn der ersten Schulstufe erneut eingeschult. 

Prinzipiell werden SchülerInnen mit Sprachproblemen als außerordentliche SchülerInnen für die Dauer von zwei Jahren eingestuft und nehmen am normalen Unterricht teil. Sie erhalten dann bis zu elf Stunden in der Woche entweder in eigenen Gruppen oder per Stützlehrer integrativ im Unterricht mit allen anderen Kindern eine Sprachförderung. Nach Ablauf dieser zwei Jahre werden diese SchülerInnen als ordentliche SchülerInnen eingestuft. 

Dass das nicht zwingend eine ausreichende Förderung im L1- und L2-Erwerb darstellt, zeigt sich meist in der Sekundarstufe, wenn zahlreiche dieser DaZ-SchülerInnen einen sonderpädagogischem Förderbedarf erhalten, da sie dem Fachunterricht in ihrer L2 nicht folgen können. Die Zahl der SchülerInnen mit "sonderpädagogischem Förderbedarf", kurz SPF, steigt in Österreich sowohl an den Sonderschulen als auch an allgemeinen Schulen derzeit kontinuierlich: "Österreichweit galten im Schuljahr 2000/01 insgesamt 26.972 Schüler als sonderpädagogisch förderungswürdig, 2012/13 waren es schon 29.793" (Burgstaller 2014). Da das Verfahren nicht standardisiert ist, gilt es generell als umstritten: "SPF wird im Unterschied zur ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers nicht nur für Kinder mit diagnostizierten intellektuellen und psychischen Beeinträchtigungen vergeben, sondern – genau genommen gesetzeswidrig – auch für Kinder mit sprachlich-kulturellen Anpassungsschwierigkeiten und für emotional-sozial benachteiligte Kinder", erörtert Bernhard Schmid in seiner Funktion als Generalsekretär der Lebenshilfe Wien (Schmid zit. n. Burgstaller 2014).

Ausnahmen bestätigen gern die Regel, aber die Regel in Wien lautet: SchülerInnen egal welcher Erstsprache werden als bildungspolitische Richtlinie in der ersten Schulstufe in deutscher Sprache alphabetisiert; im besten Fall gibt es einen separat geführten muttersprachlichen Unterricht, in dem von muttersprachlichen LehrerInnen in L1 über die Eigenheiten von L2 gelehrt wird. 

Die Annahme in Wien, dass das Leseverstehen sich bei der Alphabetisierung in der Zweitsprache ebenso gut entwickeln könne wie bei einer Alphabetisierung in der Erstsprache, ist aber schlichtweg falsch. Tatsächlich zeigt sich „für gewöhnlich eine schwere Retardierung im Lesen, wenn der Leseunterricht nicht in der Muttersprache des Kindes durchgeführt wurde“ (Fthenakis/Sonner/Thrul/Walbiner 1985: 85 zit. n. de Cillia 2006: 5). Zu gleichem Schluss kommt Rehbein (1987, zit. n. de Cillia: 6), dessen Untersuchungsergebnisse zeigen, dass „[w]enn bestimmte sprachliche Fertigkeiten (wie Hörverstehen oder Leseverstehen) nicht dementsprechend in der L1 erworben und entwickelt wurden, […] die entsprechenden Fertigkeiten auch nicht in der L2 freigesetzt werden.“ Auch laut Cummins und McLaughlin ist eine Alphabetisierung in L2 nur wenig sinnvoll. Mit dem Hinweis auf gemeinsame, zugrunde liegende Fertigkeiten (‘Common Underlying Proficiency’) und auf die Interpendenz der Sprachfertigkeiten in der L1 und L2 betont Cummins, dass "erst wenn L1 bezüglich Sprachfertigkeiten und Begriffe ausgereift ist, ein Transfer zu L2 überhaupt möglich wird" (vgl. Cummins 1991 zit. n. Sevinc 2011: 252). 

Sevinc bringt das Problem auf den Punkt: “Wenn jüngere Kinder vor Abschluss der völligen Beherrschung ihrer Erstsprache eine Zweitsprache für den Schulalltag lernen sollen, so sind sie noch nicht im Besitz von übertragbaren akademischen Fähigkeiten, plagen sich daher mehr und benötigen deshalb mehr Zeit im Vergleich zu Kindern, deren Erstsprachenfertigkeiten zum Transfer im schulischen Umfeld bereits zur Verfügung stehen” (Sevinc 2011: 265). 

In Wien erlernen DaZ-SchülerInnen faktisch das Lesen und Schreiben in ihrer Zweitsprache und dass das möglich ist, kann man Tag für Tag in Wien beobachten. Aber die daraus resultierende Konsequenz ist, dass "sich die mit dem Lesen und Schreiben einhergehenden kognitiven Fähigkeiten womöglich nicht so gut entwickeln können wie bei der Alphabetisierung in der Erstsprache" (vgl. Gogolin 2006: 42). 
Schule der Stadt Wien


Damit könnte auch erklärt werden, weshalb bei vielen VolksschülerInnen mit Migrationshintergrund schlechtere schulische Leistungen in den ersten Schuljahren oft weniger auffallen als später in der Sekundarstufe, wo die SchülerInnen einer anderen Schulform ausgesetzt sind, und wo die deutsche Bildungssprache für den jeweiligen Fachunterricht (Physik, Biologie etc.) eigentlich als Voraussetzung angenommen wird. 

Dass das schlichtweg für DaZ-Kinder nicht möglich ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass sich bereits der Erstspracherwerb bei Kindern, die im Alter von 5 oder 6 eingeschult werden, mindestens bis zum 12. Lebensjahr (2. Klasse, Sekundarstufe) erstreckt und mit dem Ende der Volksschulzeit eben noch nicht abgeschlossen ist (vgl. McLaughlin 1984: 41-43). 

In Wien sind es schließlich weniger die AHS-Unterstufe besuchenden "Botschafterkinder" aus der gebildeten Oberschicht und Mittelschicht, die den LehrerInnen und Schulleitungen Sorgen bereiten, sondern eher Kinder, die aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen stammen und bildungsferne Eltern haben, denn "wo Bildung nichts bedeutet, bedeutet sie auch nichts. Und wo sie schon in puncto gesellschaftlicher Status und Einkommen bei den Eltern eine Rolle gespielt hat, wird sie auch im erzieherischen Umgang mit dem Nachwuchs eine Rolle spielen“ (Schirlbauer 2013).

In der Sekundarstufe neigen diese Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen (besonders) in der Wiener NMS ungenügende schulische Erfolge zu erzielen, was klar nachzuvollziehen ist, denn die “Interdependenz der sprachlichen und kognitiven Entwicklung stellt einen weiteren wichtigen Faktor beim L2-Erwerb dar. Es gibt eine erwiesene Korrelation zwischen mangelhafter Sprachentwicklung und schwachem Selbstwertgefühl, wodurch es entweder zu einer Stockung oder sogar zu einer rückläufigen Entwicklung beim schulischen Lernen kommen kann, speziell bei Kindern einer ethnischen Minderheit und Kindern mit sozio-kulturell benachteiligtem Hintergrund” (Sevinc 2011: 274).

Erfolg in der Zweitsprache ist maßgeblich von der Entwicklung der Erstsprache abhängig. Eine wirklich erfolgreiche Alphabetisierung kann nicht ohne die volle Entwicklung der L1 garantiert werden. 

Derzeit gibt es sogar SchülerInnen in Wien, die in ihrem letzten Schuljahr der Schulpflicht weder ihre L1 noch ihre L2 beherrschen. Das derzeitige Schulsystem duldet sie und "trägt" sie "weiter". DaZ-SchülerInnen, die dringend Förderung bedürfen, bestehen Schulstufen, es repetieren immer weniger DaZ-SchülerInnen, weil sie von ihren LehrerInnen keine "Nicht genügend" mehr bekommen: „Eine Hilflosigkeit gegenüber dem versagenden System kommt hier ebenso zum Ausdruck wie Resignation [. . .]. Man glaubt, im Interesse der Kinder zu handeln, trägt aber dazu bei, das System in der derzeitigen Form am Leben zu erhalten“, analysiert Heidi Schrodt in ihrem 2014 erschienen Buch „Sehr gut oder Nicht genügend – Migration und Schule in Österreich“ (Schrodt zit. n. Bayrhammer 2014).

Wien als der Motor des Einwanderungslands Österreich vergibt die Chance auf junge, zufriedene und mehrsprachig qualifizierte StaatsbürgerInnen, die die Pluralität und Diversität einer mitteleuropäischen Stadt ausmachen sollten, wenn weiterhin "zwanghaft" als Status Quo in deutscher Sprache alphabetisiert wird, obwohl schon seit dem Schuljahr 2008/09 mehr als 50% der SchülerInnen, die in den Wiener Volksschulen sitzen, eine andere Erstsprache als Deutsch sprechen (vgl. BMUKK 2010).

In Wien beißt sich heute noch der Hund in den Schwanz, denn es fehlt am begabten LehrerInnennachwuchs: Es sind kaum MigrantInnen mit dem in Wien gefragten Background (mit L1 Türkisch/BKS/Arabisch/Albanisch/Russisch) als LehrerInnen tätig, da sie ihre L2 nur unzureichend beherrschen und bei den Aufnahmeprüfungen an den Pädagogischen Hochschulen beim Deutschtest scheitern (Autorenkollektiv 2014a). Qualifizierte bilinguale LehrerInnen fehlen für das Teamteaching, um gezielte Maßnahmen für eine Alphabetisierung Wiener DaZ-VolksschülerInnen zu erreichen.

Die Wiener Volksschule muss sich ändern, um den Herausforderungen gewachsen zu sein. Bilinguale Schulmodelle, in denen andere Sprachen als vielfältige Bereicherung gesehen werden, bieten zukunftsweisende Konzepte. Zahlreiche schulorganisatorische Modelle im Umgang mit Mehrsprachigkeit böten sich für viele Schulstandorte Wiens an. 


Literatur

Autorenkollektiv (2012a): Daten & Fakten - Wiener Bevölkerung nach Migrationshintergrund, https://www.wien.gv.at/menschen/integration/grundlagen/daten.html, abgerufen 12.08.2014

Autorenkollektiv (2012b): Die Geburtenrate bei Ausländerinnen, http://www.auslaender.at/die- geburtenrate-bei-auslanderinnen, abgerufen 03.08.2014


Autorenkollektiv (2014a): Kaum Migranten als Lehrer tätig, http://noe.orf.at/news/stories/2660011/, abgerufen 14.08.2014


Autorenkollektiv (2014b): Migrantenklassen: Experten lehnen Vorschlag ab, http://derstandard.at/2000003518425/Experten-plaedieren-fuer-Migrantenklassen, abgerufen 12.08.2014


Autorenkollektiv (2014c): Integrationsbericht: Zugehörigkeitsgefühl von Zuwanderern steigt, http://derstandard.at/2000003601640/Bericht-Integrationsklima-verbessert-sich, abgerufen 13.08.2014


Bayrhammer B. (2014). Deutsch: „Integrierte Förderung besser als Intensivkurse“,http://diepresse.com/home/bildung/schule/3844668/Deutsch_Integrierte -Forderung-besser-als-Intensivkurse?direct=3845716, abgerufen 13.08.2014

BMUKK (2010): SchülerInnen mit anderen Erstsprachen. Statistische Übersicht. Schuljahre 2005/06 bis 2009/10. http://www.bmukk.gv.at/medienpool/8953/nr2_10.pdf, abgerufen 15.08.2014


Bonavida, I. et al (2014): Deutschförderung: Lehrer für Migranten fehlen, http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/3845716/Deutschforderung_Lehrer- fur-Migranten-fehlen, abgerufen 11.08.2014 


Burgstaller, K. (2014):  Das Comeback der Sonderschule in Österreich, http://derstandard.at/2000003342181/Das-Comeback-der-Sonderschule-in- Oesterreich, abgerufen 19.08.2014

Buttaroni S. (2011). Lesen. In: Susanne Buttaroni (Hg.) Wie Sprache funktioniert. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S.313- 362


Bialystok, E., & Hakuta, K. (1999). Confounded age: Linguistic and cognitive factors in age differences for second language acquisition. Second language acquisition and the Critical period hypothesis, S.161-S.181. Mahway: Erlbaum.


de Cillia, R.(2006). Spracherwerb in der Migration. In: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur (Hrsg. und Medieninhaber), Informationsblätter des Referats für Interkulturelles Lernen Nr.3/2006. Wien. 3-11.


Cramer, U. et al. (oJ): Zum Zusammenhang von Alphabetisierung in der Erst- und der Zweitsprache, http://www.uni-leipzig.de/herder/projekte/alpha/frames/main5.6.html, abgerufen 14.08.2014

Cummins, J. (1982) Die Schwellenniveau- und die Interdependenz-Hypothese: Erklärungen zum Erfolg zweisprachiger Erziehung. In: Swift, James (Hrsg.): Bilinguale und multikulturelle Erziehung. Würzburg: Königshausen und Neumann, 34-43 


Cummins J. (1991): Interdependence of first an second language proficiency in bilingual children. In: Bialystok E.: Language Processing. Cambridge: Cambrigde University Press


Cramer U. u.a. (o.J.): Zum Zusammenhang von Alphabetisierung in der Erst- und der Zweitsprache, http://www.uni-leipzig.de/herder/projekte/alpha/frames/main5.6.htm, abgerufen 20.9.2014


Gogolin, I. (2001): Länderbericht Berlin. In: Gogolin, I. u.a. (Hrsg): Schulbildung für Kinder aus Minderheiten in Deutschland 1989-1999, Waxmann Verlag, S.53-76

Gogolin, I. (2006): Chancen und Risiken nach PISA – über die Bildungsbeteiligung von Migrantenkindern und Reformvorschläge. In: Auernheimer, Georg (Hrsg.), Schieflagen im Bildungssystem. Die Benachteiligung der Migrantenkinder (2. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 33-50.


Gogolin, I., Roth H.-J. (2007): Bilinguale Grundschule: Ein Beitrag zur Förderung der Mehrsprachigkeit. In: Anstatt (Hrsg.): Mehrsprachigkeit bei Kindern und Erwachsenen. Attempto Verlag: Tübingen. S.31-45.


McLaughlin, B. (1984): Second language acquisition in childhood: Preschool children. Vol. 1 Hillside: Erlbaum Asssociates.


Schirlbauer, A. (2013): Ach, die "bildungsfernen Schichten"!, http://derstandard.at/1363706487940/Ach-die-bildungsfernen-Schichten, (10.08.2014)


Sevinc, M. (2011). Zweitspracherwerb. In: Susanne Buttaroni (Hg) Wie Sprache funktioniert. Baltmannsweiler: Schneider Verlag.


Steinmayr, A. (2009): Die Bildungssituation der zweiten Zuwanderergeneration in Wien, http://www.integrationsfonds.at/oeif_dossiers/die_bildungssituation_der_zweiten_zuw anderergeneration_in_wien/#c4418, abgerufen 13.08.2014