Über den Klassenrat

Soziokratischer Klassenrat

Politische Bildung als Unterrichtsprinzip der Primarstufe wird nur dann wirksam, wenn sie tatsächlich erlebt und erfahren wird. Das geschieht, wenn direkt an die Lebensrealität der SchülerInnen angeknüpft wird und ihre eigenen Interessen in der Klassengemeinschaft berücksichtigt werden. Der aus der Freinet-Pädagogik bekannte „Klassenrat“ ist eine sehr mächtige Gruppentechnik partizipativer Demokratie, bei der die SchülerInnen in einem wöchentlich einberufenen Forum sukzessive die Artikulation eigener Bedürfnisse lernen und zu einer Urteilsbildung geführt werden, die sich unabhängig der Freundschaften in der Klassengemeinschaft vollziehen soll, (vgl. Riemer 2005). 


"Danke"- und "Wünsche"-Briefchen für den Klassenrat
Die Wandzeitung geht dem Klassenrat voraus. Auf dieser gut im Klassenraum sichtbaren Wandzeitung, bei der stets auch die Gesprächs- und Spielregeln für das spätere Forum angeführt sind, gibt es vier Rubriken: „Wünsche“, „Ärger“, „Fragen“, „Danke“. Im Klassenrat werden ausschließlich die eingebrachten Themen der Wandzeitung behandelt. Der Klassenratsleiter ruft die AutorInnen der einzelnen Briefchen auf, ihre Sätze nochmals vorzutragen. Um ein positives Klima im Klassenrat zu gewährleisten, wird zuerst die Rubrik "Danke" behandelt. SchülerInnen bedanken sich bei ihren KollegInnen, weil sie sich untereinander (während des Tagesplans in Fächern) geholfen haben. Danach wird die Rubrik "Ärger" behandelt, bei der Konflikte unter SchülerInnen thematisiert werden. Hier ist äußerstes Fingerspitzengefühl erforderlich, denn meist muss hier die Lehrkraft Verständnis für die andere Seite wecken und etwaige Mobbing-gefährdete Fälle direkt ansprechen, diskutieren und ggf. sofort unterbinden. Unter der Rubrik "Fragen" und "Wünsche" befinden sich von den SchülerInnen kommende Vorschläge für Themen des Sachunterrichts in den kommenden Wochen oder Wünsche für Ausflüge. Hier erfolgen schließlich Abstimmungen über diese Ausflüge oder Themen im Klassenverband. Die Entscheidungsfindung geschieht zunehmend unabhängig von Freundschaften unter KlassenkollegInnen, aber seit jeher über den Mehrheitsentscheid.

Konsens im Klassenrat

Genau dieses Prinzip des Mehrheitsentscheids im Klassenrat wurde beim vergangenen RIDEF, dem internationalen Kongress für Freinet-Pädagogen, der vom 21. -30. Juli 2014 in Italien stattfand, heftig diskutiert (vgl. Bindestrich 2015). Der promovierte Erziehungswissenschaftler und Freinet-Pädagoge Prof. Jean Le Gal (Nantes, Frankreich) schlug seinen KollegInnen im Rahmen eines Referats das Prinzip der Soziokratie für den Klassenrat vor. Nach der Diskussion eines bestimmten Themas im Rahmen des Klassenrats wird in einem soziokratischen Rahmen nicht mehr gefragt, wer dafür sei, sondern wer jetzt noch wichtige Argumente dagegen habe. Hat niemand etwas im Gesprächskreis gegen einen Vorschlag einzuwenden, deklariert der Klassenratsleiter das Thema als im Konsens angenommen.  Die Soziokratie geht in dieser Form von der Gleichberechtigung jedes Einzelnen aus, und beruht auf dem Prinzip der Zustimmung. Im Gegensatz zur Demokratie (ein Mensch - eine Stimme) wird eine Entscheidung nur dann getroffen, wenn niemand einen begründeten und schwerwiegenden Einwand dagegen hat. Hier wird bewusst eine "psychische Hürde" erzeugt, denn es bedarf einer Argumentation, um sich gegen einen Vorschlag auszusprechen und nicht eines bloßen Handhebens im "Schutz" einer vermeintlichen Mehrheit, die zumeist die eigene "Peer Group" ausmacht. Soziokratie gibt dem Einzelnen mehr Macht als die Demokratie im Klassenrat. Unter welchen Bedingungen Konsens im Klassenrat funktioniert, bleibt in den nächsten Jahren zu testen. Darüber reflektiert wird sicherlich beim nächsten RIDEF, der 2016 in Bénin stattfinden wird.


Literatur

Matthias Reimer (Hg.) Praxishilfen Freinet-Pädagogik. Kempten: 2005.

Autorenkollektiv. Bindestrich - die Zeitung der Freinet Gruppe Schweiz. (Nr.79). Zürich: 2015