Bilder imaginieren, Texte entwerfen


Über den Erwerb von visueller und textueller Literalität in der Primarstufe unserer Migrationsgesellschaft

1.    Einleitung

    Wer als Lehrkraft in der Primarstufe unter der Vermittlung elementarer Kulturtechniken nur primär das Unterrichten der Grundrechenarten und der textuellen Literalität versteht, greift zu kurz. Was Literalität betrifft, reicht der Bezug auf den Text nicht aus. Das (bewegte) Bild fehlt, denn mit dem Verweis auf die Semiotik (vgl. Eco 1977) wird klar, dass Kommunikation nicht nur aus Wörtern besteht. Visuelle Literalität in der Primarstufe zu lehren, bedeutet eine Kulturtechnik des Bilds zu zeigen. Sie meint, SchülerInnen die Fähigkeit zu vermitteln, […] „visuelle Gestaltung im Allgemeinen und Bilder im Besonderen angemessen zu verstehen, zu verwenden und herzustellen“ (Billmayer 2011: oA).
    Überlegungen zur Schulbildung in Bezug auf das Lehren visueller und textueller Literalität sind stets unter den Bedingungen der Institution Schule in unserer Migrationsgesellschaft zu analysieren: Wie in zahlreichen anderen städtischen Ballungsräumen Europas, spricht die absolute Mehrheit der eingeschulten schulpflichtigen Kinder in Wien die Sprache, in der sie alphabetisiert werden, nicht als Erstsprache. Der Anteil der SchülerInnen „mit nicht-deutscher Umgangssprache“ in der Wiener Primarstufe betrug bereits im Schuljahr 2013/14 abhängig vom Wohnbezirk bereits 50,1 bis 88,5 Prozent (vgl. Medienservicestelle 2015). Eine andere Erstsprache als Deutsch ist Faktum unserer Migrationsgesellschaft, aber nicht allein ausschlaggebend für den gesamten Lernerfolg von mehrsprachigen SchülerInnen, die eingeschult werden, denn, so Fürstenau: „der aktuelle Forschungsstand spricht eindeutig dagegen, die Mehrsprachigkeit der Kinder als Ursache für Bildungsmisserfolge zu sehen“ (Fürstenau 2011 : 554). 
    Wenn eine andere Erstsprache als Deutsch als nicht ausschlaggebend gelten kann, so scheinen es der sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Status der SchülerInnen zu sein. Basil Bernstein geht in diesem Zusammenhang von graduellen Abstufungen des Sprachgebrauchs (Code) aus, die in der Schule zum Zug kommen, und letztlich selektionierend wirken. Der "restringierte Code" der Alltagssprache wird der sozio-ökonomisch und sozio-kulturell benachteiligten Arbeiterschicht zugeschrieben, der "elaborierte Code" wird der Mittelschicht zugeschrieben, (vgl. Bernstein 1975). Mit dieser Codedichothismierung von elaboriertem und restringiertem Code beschreibt Bernstein keine moralisch zu beurteilende Frage sozialer Benachteiligung: Restringierter Code ist anders, nicht minderwertig. Das täuscht aber natürlich nicht darüber hinweg, dass die Institution Schule eine Institution der Mittelschicht ist. Ihr bevorzugter Code ist der elaborierte Code, mit dem in unseren Breitengraden gerne der Begriff "Bildungssprache" in Verbindung gebracht wird.     Lehrinhalte erreichen ihre SchülerInnen nur, wenn Zugang zu ausreichendem und verständlichem Input in der zu erwerbenden „Bildungssprache“ als Zielsprache gegeben ist: „Hieraus folgt, dass die spezifischen Anforderungen schulischen Sprachgebrauchs auch in der Schule, im Unterricht vermittelt werden müssen, damit sie erworben werden können – sie kommen in anderen Lebensbereichen nicht systematisch vor“, (Gogolin 2013: 11). Wenn davon ausgegangen wird, dass "Bilddidaktik" Teil des elaborierten Codes (d.h. hochsprachliches Registers) ist, weil sie in erster Linie der „Organisation von Denkprozessen [dient], in denen Ideen, Konzepte und Theorien zum Zweck der gegenseitigen Überprüfung unterschieden und weiterentwickelt werden“ (Graf 2011 : 200), wird deutlich, dass der Erwerb von visueller und textueller Literalität unter den genannten Rahmenbedingungen in der Primarstufe unserer Migrationsgesellschaft eine große Herausforderung darstellt.

2. Fallstudie zur Verschränkung von visueller und textueller Literalität: vom restringierten zum elaborierten Code

Anhand einer Beschreibung einzelner Projekte, die mit SchülerInnen des Einschulungsjahrgangs 2013/14 der Wiener UNESCO-Volksschule Darwingasse in ihren ersten drei Schulstufen der Primarstufe durchgeführt wurden, soll in dieser kurzen Fallstudie mit drei beispielhaften Unterrichtsszenarien demonstriert werden, wie ein verschränkender Unterricht von visueller und textueller Literalität durchgeführt werden kann, der die Realität der mehrsprachigen Migrationgesellschaft anerkennt.
    An die gängigen sprachlichen Handlungen des restringierten Codes schließt 4.1 Ausflugeschichten an: Handlungsorientierter Unterricht der Grundstufe I ist bewusst deiktisch und konkret, wenn er sich auf Personen, Orte und Gegenstände im direkten Kontext der Umgebung bezieht, auf die ggf. gezeigt werden kann. 4.2 Zwei Tage mit Elif Süsler ist schon im Übergang zwischen restringiertem und elaborierten Code verortet, wenn auf Personen, Orte, Gegenstände referiert wird, die nicht im direkten Kontext zu sehen sind und auf die nicht gezeigt werden kann. In diesem Fall beziehen sich der Unterricht auf Geschehnisse, über die in L1 (Erstsprache) und später in L2 (Zweitsprache) berichtet wird und die in Abbildungen festgehalten werden, bevor ein Brettspiel entsteht.  Bei 4.3. Bilddidaktik im KHM ist mehrheitlich der elaborierte Code gefordert, wenn bei der Interpretation von „Das Haupt der Medusa“ (Peter Paul Rubens) die vordringliche  Bildmetapher im Gespräch aufgelöst wird.
    Der Beschreibung der einzelnen Unterrichtsszenarien werden die Handlungen für SchülerInnen unter Satzklammern hinzugefügt.

2.1. Ausflugsgeschichten (Gestalten, Schreiben)

Ausgehend von so genannten „Spaziergangsklassen“ entwickelte der Reformpädagoge Célestin Freinet (1896 - 1966) ein Erkundungskonzept, bei dem der außerschulische Lernort zum Ausgangspunkt für das Verarbeiten von Erfahrungen wurde, (vgl. Riemer 2005). Getreu den Vorstellungen Freinets wurde die 1.b ab dem Schuljahr 2013/14 bei den „Ausflugsgeschichten“ zur „Spaziergangsklasse“, die sich für die Entstehung eines Texts auf einen gemeinsamen Ausflug machte. Vom Ausflug zurückwerden im Plenum Sätze über die Erlebnisse des soeben Erlebtem gesammelt. Die Sätze der SchülerInnen ergeben einen Text auf der Tafel, der von der Lehrkraft auf der Tafel aufgeschrieben wird. Dann wird der Text von den SchülerInnen in die Schreibhefte übertragen. Die SchülerInnen werden durch das gemeinsame Erarbeiten des Texts mit der Textsorte „Bericht“ vertraut gemacht; kein Bericht wird im Plenum erzählerisch bis zum Ende geführt. Den SchülerInnen steht es im folgenden Arbeitsschritt frei, in der Sequenz des „freien Ausdrucks“ den Bericht fortzusetzen oder bei freier Wahl der Arbeitsmittel, ein Bild über den Ausflug zu gestalten. In der Folge produzierte die Lehrkraft ein Buch mit Texten und Bildern der SchülerInnen, das in der Klasse neben anderen Kinderbüchern zur Verfügung steht: Veröffentlichung und Ausstellung ist immer Ziel des „freien Ausdrucks“ als Mitteilungstechnik nach Freinet. Dem lag folgender Gedanke zugrunde: Wenn wie beim „freien Ausdruck“ das Gestalten auf gleiche Stufe wie das Schreiben gestellt wird, gewinnt visuelle wie textuelle Literalität gleichermaßen an Bedeutung für die SchülerInnen.  












    Die „Ausflugsgeschichten“ erzählen vom Zusammenleben in der Klasse und dem Erschließen der eigenen Umwelt. Langsam werden bei diesen beschriebenen „Ausflugsgeschichten“ die „Gerüste“ abgebaut: Der Tafeltext wird von Schulstufe zu Schulstufe immer kürzer. Die SchülerInnen sollen immer längere Passagen des Berichts mit eigenen Sätzen vollenden. Schreiben und Gestalten werden für die SchülerInnen seitdem zu bindenden Elementen: Viele SchülerInnen nutzen auch die Gelegenheit, ihre Erlebnisse in ihrer Erstsprache noch einmal festzuhalten.  

2.2. Zwei Tage mit Elif Süsler (Gestalten, Schreiben, Berichten, Argumentieren)

Wird davon ausgegangen, dass der restringierte Code eng mit der ihn erzeugenden Sozialstruktur zusammenhängt, ist es entscheidend, dass der Zugang zu ausreichendem verständlichem Input für zielführenden Unterricht in der Primarstufe unserer Migrationsgesellschaft nicht nur bei dem unmittelbar Erlebtem (wie bei den „Ausflugsgeschichten“) ansetzt, sondern auch die Erfahrungen und Erinnerungen der SchülerInnen aus ihrer Lebenswelt außerhalb der Schule evoziert. Von großer Bedeutung für den Zweitspracherwerb in der Primarstufe ist neben dem verständlichen Input und die im Sinne einer „Pädagogik der Vielfalt“ formulierte Ermutigung, mehrsprachige SchülerInnen stets darin zu bestärken, ihre Erstsprache (L1) weiter zu entwickeln, während sie ihre Zweitsprache (L2) erwerben, denn mit dem Hinweis auf die gemeinsamen, zugrunde liegenden Fertigkeiten (‘Common Underlying Proficiency’) und auf die Interpendenz der Sprachfertigkeiten in L1 und L2 betont auch Cummins, dass „erst wenn die L1 bezüglich Sprachfertigkeiten und Begriffe ausgereift ist, ein Transfer zu L2 überhaupt möglich wird“, (vgl. Cummins zit. n. Sevinc 2011: 252)




    Dank einer Kooperation mit „KulturKontakt Austria“ war die türkischsprachige Künstlerin Elif Süsler im Juni 2015 anlässlich eines Projekts Gastlehrkraft der Klasse. Mit ihr wurde ein überdimensionales Brettspiel („Volkertmarktspiel“) erstellt, das ein besseres soziales Miteinander und Abfallvermeidung im eigenen Lebensraum zum Thema hatte.
    Gemeinsam mit der Erstsprachenlehrerin und Elif Süsler hatten die türkischsprachigen SchülerInnen der Klasse die Gelegenheit in eigenen Sitzkreisen ihrer Erstsprache von ihren Erlebnissen am Platz zu berichten: erstellte Bilder wurden präsentiert, beurteilt und gedeutet, wenn im gemeinsamen Gespräch über die Erlebnisse am Markt berichtet wurde. Gezielt fand anschließend der Transfer von Türkisch auf Deutsch in dem gemeinsamen Klassensitzkreis statt.  An den Projekttagen präsentierten die betreffenden SchülerInnen ihre Bilder auf Türkisch, während sie schon in den vorangegangenen Arbeitssequenzen besonders von der türkischsprachigen Künstlerin begleitet wurden. Geheimes Lernziel war es, das Prestige einer gemeinhin als Minderheitensprache wahrgenommenen Sprache zu stärken und die SchülerInnen in ihrer Mehrsprachigkeit zu stärken. Im Prozess der Welt- und Selbstaneignung erfuhren die SchülerInnen ihren Lebensraum Volkertmarkt neu. In der dritten Schulstufe verfassten die türkischsprachige SchülerInnen Satzkarten für das Spiel in ihrer Erstsprache. Am 25.11.2015 fand eine öffentliche Präsentation des Spiels beim Grätzelforum in Wien-Leopoldstadt statt, (vgl. Kozeschnik-Schlick 2016).

2.3. Bilddidaktik im KHM (Beschreiben, Interpretieren)

Bei dem Rezipieren der Bilder mit mehrsprachigen SchülerInnen aus sozio-ökonomisch und sozio-kulturell benachteiligten Verhältnissen bildet „Language Awareness“ (Sprachaufmerksamkeit) in der Bilddidaktik ein wesentliches Moment: Was stellt ein Bild dar und wofür steht es?
    Als die Jahrgangsklasse 2013/14 in der dritten Schulstufe im Dezember 2015 das Kunsthistorische Museum in Wien besuchte, nahmen die Kinder vor „Das Haupt der Medusa“ von Peter Paul Rubens Platz. Zuerst wurde im Plenum die Geschichte von Medusa und Perseus erörtert und abgeklärt, dass es sich um eine Sage handelt. Nachdem surreale Bilddetails (Schlange in Wellenform, sich selbst verzehrende Schlangen) entdeckt und beschrieben wurden, wurden die SchülerInnen dazu aufgefordert, darüber nachzudenken, ob sie mit dem Namen „Medusa“ ein Wort aus ihren Erstsprachen (Türkisch, Spanisch, Rumänisch, Serbisch, Bosnisch) verbinden, das sie als Bildelement wiederfinden. Als einzelne SchülerInnen den Zusammenhang zwischen den sich wild räkelnden Schlangen am Haupt der Frau und den Tentakeln des Meerestiers Qualle („Medusa“) erkannten, konnten SchülerInnen die Bildmetapher "auflösen": Für einen kurzen Moment wurden die Grenzen zwischen Wort und Bild fließend. Das Wort traf in der Betrachtung auf das Bild, und das Bild spiegelte das Wort wider.
 

Teile dieses Texts wurden in dem gemeinsam mit Rolf Laven verfassten, gleichnamigen Text in BÖKWE 1/2017 veröffentlicht.

Literatur

BAUSINGER, H (2000) Sprachbarrieren. In: Flitner, A (Hrsg). Einführung in pädagogisches Sehen und Denken. Weinheim: Beltz, S.175-S.183

BERGK, M (1987) Rechtschreibenlernen von Anfang an. Frankfurt am Main: Diesterweg

BERNSTEIN, B (1975) Sprachliche Kodes und soziale Kontrolle. Düsseldorf: Schwann

BILLMAYER, F. (2011) Visual literacy - visuelle Literalität als Basis für Kompetenzen in der Bilddidaktik, vgl. http://www.bilderlernen.at/did/did_ziel_vis_lit.html, [14.10.2016]

ECO U. (1977). Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag

FÜRSTENAU S., GOMOLLA M. (2011). Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Wiesbaden VS-Verlag, E-Book, Pos. 554

GOGOLIN, I. (2013). Mehrsprachigkeit und bildungssprachliche Fähigkeiten. Zur Einführung in das Buch ‚Herausforderung Bildungssprache – und wie man sie meistert‘. In: Gogolin, I./Lange, I./Michel, Ute/Reich, H. (Hrsg.) Herausforderung Bildungssprache und wie man sie meistert. Münster: Waxmann, S. 7-18.

GRAF E. O. (2011) Lernen ist Veränderung. Bildungs- und Erziehungsprozesse aus dem Blickwinkel der Institutionsanalyse. Münster: Waxmann

HÖVELBRINKS, B. (2014). Bildungssprachliche Kompetenz von einsprachig und mehrsprachig aufwachsenden Kindern. Eine vergleichende Studie in naturwissenschaftlichen Lernumgebung der ersten Schuljahr. Weinheim: Beltz Juventa

KOZESCHNIK-SCHLICK, U. (2016) Grätzelforum diskutiert Projektideen im Alliierten-und Volkertviertel,  http://www.meinbezirk.at/leopoldstadt/lokales/graetzelforum-diskutiert-projektideen-im-alliierten-und-volkertviertel-d1569413.html, [14.10.2016]

MEDIENSERVICESTELLE (2015): Österreichs Schulen von Vielfalt geprägt, http://medienservicestelle.at/migration_bewegt/2015/09/02/oesterreichs-schulen-von-vielfalt-gepraegt/, [05.10.2016]

RIEMER, M. (2005) Praxishilfen Freinet-Pädagogik. Klinkhardt: Bad Heilbrunn

SERTL, M. (2013). Studie: Lehrer-Erwartungen widersprechen Ziel der Individualisierung, derstandard.at/1363707364607/Studie-Lehrer-Erwartungen-widersprechen-Ziel-der-Individualisierung, [14.10.2016]

SEVINC, M. (2011). Zweitspracherwerb. In: Buttaroni, S. (Hg) Wie Sprache funktioniert. Baltmannsweiler: Schneider Verlag.

WALTER M. (2012). Lebendige Sprache lehren. Sprache lebendig lehren. Wien: Lernen mit Pfiff Verlag