Wozu dienen Wimmelbilder im Unterricht der Primarstufe?




Die flämischen Sprichwörter“ von Pieter Bruegel
Es wuselt und wimmelt. Der eine ist bis auf die Zähne bewaffnet, der andere schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe, während hinter ihm jemand gegen den Strom schwimmt. Die Rede ist vom Wimmelbild aller Wimmelbilder, das verdeutlicht, wie Sprache einzelne Bilder im Kopf schaffen kann: Das Ölgemälde „Die flämischen Sprichwörter“ von Pieter Bruegel dem Älteren entstand 1559. Es birgt mehr als 157 Redewendungen und Sprichwörter. Viele von ihnen werden heute noch in Belgien und den Niederlanden verwendet, aber auch im deutschsprachigen Europa oder in Ländern wie Schweden, Dänemark und England sind viele dieser Redewendungen und Sprichwörter noch in Gebrauch.



Ziele für den Einsatz von Wimmelbildern


Wimmelbilder (Situationsbilder) wie sie heute im Unterricht der Primarstufe verwendet werden, dienen der Sprach- und Leseförderung. Da Wimmelbilder als Bildmaterial sprachneutral sind, können sie im Sinne einer gesamtsprachlichen Förderung im Erst-, Zweit- und Fremdsprachenunterricht eingesetzt werden. 
Das Lesen in Bildern lehrt Schülerinnen und Schüler bestimmten Grafiken einen Sinn zu entnehmen: Bilder zu lesen, einzelne Elemente in den Abbildungen zu benennen und in weiterer Folge Geschichten zu erzählen, ermöglicht eine Sprachförderung auf allen Niveaus. Anfänger beginnen mithilfe der Lehrkraft ein Wort zu entdecken, fortgeschrittene Lernerinnen und Lerner können bei angefertigten Ausschnitten aus einem Wimmelbild eine Bildzuordnung mit Satzmustern durchführen. 
Die Formung von einfachen und komplexen Erzählsträngen über das Beobachtete fördert die Vorstellungskraft der Schülerinnen und Schüler. Genau bei diesen Beschreibungen der Bilder werden die Schülerinnen und Schüler zusehends dazu angehalten, einen Grundwortschatz aufzubauen, diesen zu erproben und in weiterer Folge zu festigen. Der Aufbau eines Grundwortschatzes und seine Ausweitung können als eine obligatorische Voraussetzung für Sinn erfassendes Lesen angesehen werden. 



Wimmelbilder für den Lernbereich Sprechen


Die Deutschdidaktik in der Primarstufe muss sich vielerorts den Vorwurf gefallen lassen, den Lernbereich des Sprechens als Stiefkind des Deutschunterrichts zu behandeln, obwohl die aktive mündliche Beherrschung der Schriftsprache als der Schlüssel zu allen weiteren kommunikativen Qualifikationen bezeichnet werden kann. Angesichts der Tatsache, dass der Mensch verbal (und non-verbal) bis zu 90 % mündlich kommuniziert und nur zu 10 % schriftlich, stellt sich die Frage, warum sich mündlichen Leistungen eigentlich kaum in der Leistungsbewertung des Deutschunterrichts niederschlagen. Im Fremdsprachenunterricht der Primarstufe Österreichs hat es sich längst durchgesetzt, dass das Hören und Sprechen vor dem Lesen und Schreiben kommt. Erst nachdem die Kinder zwei Jahre lang das Hören und Sprechen in einer Fremdsprache erworben haben, beginnen sie mit dem Lesen und Schreiben in der Fremdsprache. Was den Deutschunterricht der zahlreichen SchülerInnen mit nichtdeutscher Erstsprache betrifft, stellt sich die Frage: Wird hier nicht viel zu früh in der Zweitsprache alphabetisiert, ohne dass vorab das Sprechen und Hören ausreichend gefördert und entwickelt wurde? Kann dieses Vorgehen als zielführend bezeichnet werden? Ist dieses monolinguale Normverständnis für die deutschsprachigen Einwanderungsländer Europas im Pflichtschulbereich nicht neu zu überdenken?
Wimmelbilder fördern das frühe Sprechen. Die Situationen auf diesen Bildern sind ungezwungen. Die Bilder "befehlen" keine Interpretation. Es liegt an der Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler mit ihrer Erfahrung an das Sprechen über diese Bilder heranzuführen. Das Schreiben und Lesen kommt nach dem Sprechen und Hören.


Wien und Zürich setzen auf Wimmelbilder 


Wimmelbilder werden oft im Zweitsprachenunterricht verstärkt eingesetzt. Städtische Ballungsräume im deutschsprachigen Europa haben oft einen überproportional hohen Anteil an Schülern und Schülerinnen von Zuwanderern erster und zweiter Generation, die ökonomisch schwach und bildungsfern sind. Das "Weltwissen" dieser Schülerinnen und Schüler ist oft frappierend gering. Wien und Zürich setzen deshalb nun offensiv auf Wimmelbilder, die das direkte städtische Umfeld der Schülerinnen und Schüler illustrieren. Es geht dem Stadtschulrat Wien und dem Schul- und Sportdepartement der Stadt Zürich nicht um das Darstellen von Sehenswürdigkeiten, die die GrundschülerInnen im Sachunterricht womöglich zu benennen haben, sondern gezielt um Situationen, die tatsächlich in diesen Städten passieren könnten. Es geht um Szenenbilder im Supermarkt mit den landesüblichen Bezeichnungen von Gemüse- und Obstsorten, über Begegnungen an Spielplätzen und intensiv um Situationen im öffentlichen Leben der jeweiligen Stadt. Auf Straßenszenen in Wien ließ der Stadtschulrat Wien die charakteristischen Wiener Busse und Straßenbahnen abgebildet, die für Wiener Volksschülerinnen und Volksschüler einen Wiedererkennungseffekt haben. Der DaZ-Schlüsselbund von Zürich mit Wimmelbildern als integraler Bestandteil bietet eine Fülle von bausatzartigen Materialien, bei denen auf die Orientierung im Stadtgebiet eingegangen wird.  


Fazit


Der Reiz von Wimmelbildern besteht darin, dass es für Schülerinnen und Schüler eine Anstrengung bedeutet, auf einer Seite zu verweilen, wenn sie keinen Text enthält. Wimmelbilder sind für Schülerinnen und Schüler aller Schulstufen ideal und werden bereits im Elementarbereich bei der frühen Sprachförderung eingesetzt. Die Kleinsten schauen sich nur die Bilder an und zeigen auf einzelne Szenen. Ältere Kinder formulieren erste Sätze, später ganze Geschichten. Wer Deutsch als Erstsprache spricht, redet frei von der Leber weg. Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Erstsprache lernen mithilfe der Lehrkraft die Wörter für einzelne Gegenstände und bauen sukzessive ihren Wortschatz auf. 


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Praxistipps für die Arbeit mit Wimmelbildern (basierend auf den Tipps des Sprachförderzentrum Wien mit Erweiterungen)


Sprechspiel in der Kleingruppe: „Ich seh etwas du nicht siehst … und das ist …“ (beschriebene Dinge, Tätigkeiten/Szenen im Situationsbild wieder finden und benennen).

Oberbegriffe/Kategorien sammeln (Personen, Kleidung, Möbel, Geschirr, …).

Sprechanlass: Kinder formulieren möglichst viele W-Fragen zu den Bildern.

Geräusche zu abgebildeten Situationen produzieren: Kinder erkennen und benennen das Geräusch.

Sprechanlass: Abgebildete Begriffe umschreiben und erraten.

Sprechanlass: "Du hast das Bild zwanzig Sekunden lang gesehen. Was ist dir in Erinnerung geblieben?".

Sprechanlass: Suche dir eine Szene aus und beschreibe mir, was da geschieht!

Sprechanlass: Versetze dich in die Rolle einer Person hinein und erzähle aus ihrer Sicht, was gerade geschieht.

Unterschiedliche Situationsbeschreibungen mündlich oder schriftlich anbieten – Kinder sagen oder kreuzen an, was stimmt und was nicht stimmt.

Darstellendes Spiel mit Sprechakten: Eine Gruppe von 2-3 Schülerinnen und Schüler sucht sich im Wimmelbild einen bestimmten Bildausschnitt aus, den es darstellen will. Die Teilnehmer dieses "Tableau vivant" denken sich einen Satz aus, den sie sagen, wenn sie jemand von jener Gruppe antippt, die erraten soll, welche Szene dargestellt wird. 

Gezielte Fragestellungen zu den Bildern (zuerst mündlich dann schriftlich) formulieren.

Bildkarten mit Wortschatz: Begriffe (oder Satzmuster) zum Bild auf die Rückseite notieren – auch in der Erstsprache (ein individuell wachsendes Lexikon entsteht)

Situationsbild auf OH‐Folie drucken oder kopieren – einzelne Dinge/Situationen abdecken, einkreisen, verbinden; Kategorien farblich markieren (Möbel: braun einkreisen, Schulsachen blau einkreisen, …)

Sprechanlass: Vom Situationsbild nur einen Ausschnitt preisgeben (Blatt mit Ausschnitt/en bzw. „Fenster/n“ über die Grafik legen; ein Fenster wird geöffnet ‐ Schülerinnen und Schüler spekulieren über Darstellungen hinter ungeöffneten Fenstern.

Einen Ausschnitt markieren: 4 Kartonstreifen so überlappend legen, dass eine Aussparung/ein Fenster entsteht – sichtbare Szene wird z.B. besprochen, dialogisiert, szenisch oder pantomimisch dargestellt.

"Scaffolding": Konfrontation mit einem Bildausschnitt des Wimmelbilds und ungeordneten Dialogsätzen als laminierte und magnetisierte Satzkarten an der Tafel. Schülerinnen und Schüler ordnen zunächst die Satzkarten, bis der Dialog (z.B. Kaufmannsladengespräch) in korrekter Reihenfolge ist und folglich Sinn ergibt. Dann wird der Dialog nachgespielt, indem er in verteilten Rollen abgelesen wird. Nach ein paar Durchgängen nimmt die Lehrkraft die Satzkarten von der Tafel. Die Schülerinnen und Schüler sollen nun den Dialog auswendig durchführen. In einer darauf folgenden Unterrichtssequenz wird dieser Dialog von jeder Schülerin/jedem Schüler verschriftlicht.

Erschienen in "SchulVerwaltung aktuell" (November 2015)