Bei der Umsetzung des Desiderats „Inklusive Bildung“ stellt sich im Zuge des pädagogischen Handelns die Frage nach der Anerkennung der heterogenen Rahmenbedingungen, und die Frage, welches pädagogische Handlungskonzept unsere Schule in der Migrationsgesellschaft anstreben soll, um Bildungsbarrieren und Ausgrenzungen innerhalb einer Bildungslaufbahn zugunsten einer gesellschaftlichen Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen abzubauen, damit einer potentiellen Bildungsungleichheit vorgebeugt werden kann. Ziel dieses kritisch-theoretischen Beitrags ist es nach der Analyse einer Meme (1) über gesellschaftliche Teilhabe mittels systemtheoretischem Ansatz nach Luhmann auf die Institution Schule zu fokussieren um zu fragen, ob Teilhabe im Rahmen der "Inklusiven Bildung" unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen dieses sozialen Systems als realisierbar und erfolgreich gelten kann.
Diese Meme zeigt drei Menschen bei einer Szene an einem Zaun unter zwei unterschiedlichen Voraussetzungen. Es sind nur die Rückansichten der Menschen zu sehen. Die Hautfarbe der drei Menschen lässt den Schluss zu, dass es sich um drei Afroamerikaner handelt, die Baseball spielenden Afroamerikanern in einem Stadion zusehen wollen. Diese ethnische Zuschreibung war in der ersten Meme von Froehle nicht gegeben, ist aber sicher dem Kontext der US-amerikanischen Gesellschaft der 2010er Jahre geschuldet, denn eine wesentlicher Aspekt bei der Frage um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beschäftigt sich u.a. auch mit der Frage, ob Menschen als „erkennbar different (racialisation)“ konstruiert werden (Mecheril et al 2005, S. 156) und somit als diskriminierungsgefährdet gelten.
Einleitung
Dass Barrieren und Ausgrenzungen bestehen, um die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Migrationsbiografie zu verhindern, prägt deklarierte Einwanderungsländer schon seit langem. Im Herbst 2012 stelllte Craig Froehle (Professor of Operations and Business Analytics, University of Cincinnati) eine Meme in das soziale Netzwerk Google+, die in den vergangenen Jahren immer wieder neu interpretiert und aus unterschiedlichen Blickwinkeln in den USA und in Deutschland diskutiert wurde, (Froehle 2016). Bezug genommen wird im weiteren auf die Version der Meme, die Angus Maguire im Auftrag des US-amerikanischen „Interaction Institute for Social Change“ im Mai 2016 erstellt hat.
Interaction Institute for Social Change | Artist: Angus Maguire
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Diese Meme zeigt drei Menschen bei einer Szene an einem Zaun unter zwei unterschiedlichen Voraussetzungen. Es sind nur die Rückansichten der Menschen zu sehen. Die Hautfarbe der drei Menschen lässt den Schluss zu, dass es sich um drei Afroamerikaner handelt, die Baseball spielenden Afroamerikanern in einem Stadion zusehen wollen. Diese ethnische Zuschreibung war in der ersten Meme von Froehle nicht gegeben, ist aber sicher dem Kontext der US-amerikanischen Gesellschaft der 2010er Jahre geschuldet, denn eine wesentlicher Aspekt bei der Frage um Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beschäftigt sich u.a. auch mit der Frage, ob Menschen als „erkennbar different (racialisation)“ konstruiert werden (Mecheril et al 2005, S. 156) und somit als diskriminierungsgefährdet gelten.
Die Körpergrößen der drei als männlich wahrgenommenen Menschen lässt den Schluss zu, dass es sich um einen Erwachsenen, einen Jugendlichen und ein Kind handelt. Bei dem linken Bild bekommt jeder von ihnen eine gleich große Holzkiste, um sie bei dem Vorhaben zu unterstützen, über den Zaun schauen zu können. Der Erwachsene hätte auch ohne die Holzkiste unter seinen Füßen über den Zaun blicken können, sieht jetzt aber deutlich besser auf das Geschehen vor ihm. Der Jugendliche kann mithilfe der Kiste seinen Kopf knapp über den Zaun halten und kann das Spiel ebenso wie der Erwachsene verfolgen. Dem Kind jedoch reicht eine Kiste nicht aus, es sieht nur die Bretter vor seinem Kopf. Unter diesem Bild steht das Wort „Equity“, das mit „Gleichberechtigung“ übersetzt werden kann. Dieser Ansatz von „Gleichberechtigung“ geht auch im sozialen System Schule von der „Gleichheit“ (bzw. Gleichförmigkeit) aller SchülerInnen aus. Angepriesen werden Konzepte wie „Fairness“ und „Gerechtigkeit“, weil doch jedes Gruppenmitglied die gleiche Art der Unterstützung erhält. Förderkultur wird vorgetäuscht, es wirkt aber letztendlich eine ungleich machende Selektionskultur.
Auf dem zweiten Bild rechts daneben wurde dem Mann die Kiste weggenommen, dafür bekommt das Kind nun zwei Kisten. Der Jugendliche behält weiterhin seine Kiste. Nun sehen alle über den Zaun. Unter diesem Bild steht das Wort „Equality“, das mit „Fairness“ oder plakativer mit „Gerechtigkeit“ übersetzt werden kann. Es hat den Anschein, als ob hier auf die Gerechtigkeitskategorie von John Rawls Bezug genommen wird, bei der Gerechtigkeit als Fairness verstanden wird, (Rawls 1975). Nicht jeder bekommt das Gleiche, sondern es wird dafür gesorgt, dass durch ein differenzierendes Ausmaß an Unterstützung eine Teilhabe (?) am Geschehen ermöglicht wird. Um „Gleichberechtigung“ zu ermöglichen, muss erst „Fairness“ („Gerechtigkeit“) gesichert sein, die aber nur geschehen kann, wenn einsichtig ist, dass nicht jeder das gleiche Maß an Unterstützung benötigt. Der Schriftzug legt den Schluss nahe, dass damit Förderkultur tatsächlich „gelebt“ wird: "Damit möglichst alle Gesellschaftsmitglieder die Möglichkeit haben, ihre Lebensziele frei zu wählen und zu verfolgen, müssen [...] die Benachteiligten durch Herkunft, Gesundheit, Talente durch eine kompensatorische Umverteilung von Gütern uns Ressourcen nicht zuletzt im Bereich der schulischen Bildung besser gestellt werden" (Stojanov, 2011, Pos.115)
Österreich verspricht (sich): "Inklusive Bildung"
Im Jahr 2015 wurde Österreich zum zweiten Mal nach 2011 im Rahmen der Universal Periodic Review (=UPR) durch den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen geprüft. Auf den Bericht der Arbeitsgruppe zur Universellen Staatenprüfung folgten offizielle Antworten über die erhaltenen Empfehlungen seitens Österreich.
Unter Punkt 141.28 wurde folgende Empfehlung abgegeben: „Ergreifung spezifischer Maßnahmen auf gesetzgeberischer und politischer Ebene zur Gewährleistung der vollständigen Inklusion der Kinder von Minderheiten, AsylwerberInnen, MigrantInnen und von Buben und Mädchen mit Behinderung, in das Bildungssystem“ (UPR 2015, 141.28). Österreich hat diesen Punkt der Überprüfung der Lage der Menschenrechte in Österreich durch den VN-Menschenrechtsrat im Rahmen der UPR 2015 aufgegriffen und dazu folgende Stellungnahme verfasst:
„Bezüglich der Inklusion von Kindern von Minderheiten besteht im österreichischen Bildungssystem das Angebot von eigenem muttersprachlichem Unterricht unter Ergreifung spezifischer Fördermaßnahmen, so wie es auch von den VertreterInnen der Minderheiten gewünscht ist. Kinder mit Behinderungen können ihre Schulpflicht in vollem Umfang absolvieren, mit allen Unterstützungen, die die schulrechtlichen Bestimmungen vorsehen. Seit einigen Jahren werden bereits mehr als 50% aller SchülerInnen mit Behinderungen in integrativen Schulformen unterrichtet. In Umsetzung des NAP-Behinderung, den Österreich 2012 beschlossen hat, wird an einem Ausbau dieser Angebote gearbeitet.“ (UPR 2015, 141.28)
Diese Antwort legt den Schluss nahe, als ob das offizielle Österreich explizit zwischen einem engen und einem weiten Inklusionsbegriff unterscheiden würde. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn unter 141.59 die „Schaffung eines inklusiven Bildungssystems“ gefordert wird und Österreich das mit folgender Antwort quittiert: „Annahme mit dem Verständnis, dass sich diese Empfehlung auf den Bereich der Menschen mit Behinderungen bezieht.“, (bmeia 2016).
Als eine Voraussetzung für pädagogisches Handeln im Sinne der „Inklusiven Bildung“ gilt die Anerkennung der heterogenen Rahmenbedingungen seitens der Republik Österreich, denn diese Antworten aus dem UPR-Bericht 2015 stehen eigentlich im krassen Gegensatz zu dem Beschluss der österreichischen Bundesregierung, die sich einem breiten und systemischen Verständnis von Inklusion (z.B. UNESCO 2008) anschließt, in dem sie im Erlass „Verbindliche Richtlinien zur Entwicklung von Inklusiven Modellregionen“ (bmbf 2015) einleitend darauf hinweist, dass ein inklusives Schulsystem Bildungsbarrieren abbauen und so die Chancengerechtigkeit für „alle Schüler/innen, ob mit oder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF), deutschsprachig oder anderssprachig, männlich oder weiblich usw.“ erhöhen soll, (bmbf 2015, S. 1). Die UN-Konvention erkennt neben körperlicher, geistiger und seelischer Beeinträchtigung, Behinderung dort, wo die Wechselwirkung „zwischen einer Beeinträchtigung und einer gesellschaftlichen Barriere“ (Aichele, 2010, S. 14) dazu führt, dass Menschen nicht mehr vollständig und ohne Einschrankungen an der Gesellschaft teilhaben konnen. Wüssten wir nichts über diesen genannten Beschluss der österreichischen Bundesregierung, hätte die österreichische Antwort auf Punkt 141.28 auf eine gängige Handelsperspektive im Umgang mit „Migrationsanderen“ (2) schließen lassen: Mehrsprachigkeit ist bezugnehmend auf Bildung in der Mehrheitssprache anscheinend eine Behinderung und sprachliche Bildung wird als inklusionsbildende Maßnahme wahrgenommen.
Schon im vorletzten österreichischen Staatenbericht zum UPR 2011 fanden sich in Bezug auf „Inklusive Bildung“ ähnliche Aussagen, als in Bezug auf Kinder mit Migrationshintergrund unter II/G. (Rechte von Kindern)/Punkt 85 und 86 der muttersprachliche Unterricht und auch das „mit Schuljahr 2010/11 eingeführte verpflichtende Kindergartenjahr soll ebenfalls zur kulturellen Identitätsfindung, zur Sprachentwicklung sowie zur besseren Integration von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund beitragen.“, (bmeia 2011). Diese vordergründige Maßnahme lässt für SchülerInnen mit Migrationshintergrund Migrationsbiografie den Schluss zu, dass Inklusion oft mit Integration verwechselt wird. Dass in Dokumenten der Vereinten Nationen und UNESCO die beiden Begriffe Inklusion und Integration synonym verwendet werden (Allemann-Ghionda, 2013, S.126; Furch, 2009, S.35) ist sicher nicht hilfreich für ein Bildungssystem, „das eine sehr frühe Selektion praktiziert und darüber hinaus ein verästeltes, hoch spezialisiertes System der Sonderpädagogik unterhält“ (Allemann-Ghionda, 2013, S.129).
Wenn in der österreichischen Antwort auf Punkt 141.28 die „Ergreifung spezifischer Fördermaßnahmen“ hervorgestrichen wird, ist von genau diesem spezialisierten System der Sonderpädagogik, dem verfemten Sondersystem zu Exklusionszwecken, die Rede und es stellt sich aber in letzter Konsequenz die Frage: „Wer inkludiert wen, wo, und unter welchen Bedingungen? Werden sonderpädagogische und migrationswissenschaftliche Integrationspädagogiken, die wissenschaftlich bzw. aufklärerisch ‚wirken‘ wollen, totalitär, wenn sie um jeden Preis inkludieren, das heißt Individuen - wenn auch nach gut gemeinten Maßstäben - in etablierte Herrschaftsverhältnisse einzubeziehen versuchen?“ (Oberlechner, 2015, S.739).
Legitimierte Praxis in der "Inklusiven Bildung"
Ist es nicht Ausdruck illegitimer Praxis, wenn die „Ergreifung spezifischer Fördermaßnahmen“ für Kinder mit anderer Erstsprache als Deutsch darin besteht, ihnen SPFs angedeihen zu lassen oder sie gar andernorts zu beschulen? Feyerer erkennt zum Nationalen Bildungsbericht 2015: "Analysiert man nach Migrationshintergrund, in der Bildungsdokumentation gemessen an der Alltagssprache, zeigt sich, dass Kinder mit nichtdeutscher Alltagssprache zwar etwas mehr integriert werden (64% vs. 58%), insgesamt mit einer SPF-Quote von 5,5% versus 3,6% aber deutlich öfter einen SPF zugesprochen bekommen." (Feyerer 2016)
Betrachten wir den sensiblen Übergang von Elementarstufe zu Primarstufe erkennen wir, dass diese Schülerinnen und Schüler österreichweit vorwiegend in der Vorschule eingeschult werden. Seit dem Schuljahr 2010/11 liegt der Anteil dieser mehrsprachigen Kinder bei über 50 Prozent, im Jahr 2014/15 sogar bei 58,6 Prozent. In demselben Jahr lag in Wien der Schnitt bei 79,6 Prozent in den Vorschulklassen und sogar die SchülerInnenschaft in der Wiener Primarstufe von Kindern mit anderer Erstsprache als Deutsch lag bei 56,3 Prozent, (bmbf 2016). In absoluten Zahlen inkludiert die Wiener Primarstufe SchülerInnen mit Erstsprache Deutsch und nicht umgekehrt; und dennoch wurden und werden nach wie vor diese 56,3 Prozent SchülerInnen mit anderer Erstsprache als Deutsch - fast allesamt - in Wien mit einem souveränen Selbstverständnis fast ausschließlich in ihrer Zweitsprache möglichst rasch schriftsprachlich alphabetisiert, als wäre Mehrsprachigkeit kein Faktum unserer Gesellschaft und als gäbe es weder eindeutige Erkenntnisse der Spracherwerbsforschung noch Sprachaneignungsdidaktik für mehrsprachig aufwachsende schulpflichtige Kinder in diesem Lebensalter, die in den großstädtischen Ballungsräumen Österreichs die Mehrheit bilden.
Während es im Fremdsprachenunterricht der Primarstufe dem Lehrplan getreu verpflichtend ist, dass in den ersten zwei Jahren des formalen Erwerbs nur das Sprechen und Hören gelehrt und geübt wird (bmb 2016), bis in den zwei darauffolgenden Jahren das Schreiben und Lesen unterrichtet wird, hat die österreichische Primarstufe bislang keine Einsicht gezeigt, dass mehrsprachige schulpflichtige Kinder unter Berücksichtigung spezifischer innerschulischer und außerschulischer Maßnahmen mehr Zeit brauchen, um sich ihre Zweitsprache sukzessive anzueignen. Mit Sicherheit bedeutet der von der Schulleitung verliehene "a.o. Status“ (Status der Außerordentlichkeit) an Kinder, die dem Unterricht in deutscher Sprache noch nicht folgen können, und infolgedessen nicht benotet werden, eine große Erleichterung für die Kinder und ihre Lehrkräfte, aber bei der derzeitigen Maximaldauer im Ausmaß von zwei Jahren können nur die wenigsten Kinder nahtlos an bildungssprachliche Lernziele der Primar- und der weiterführenden Sekundarstufe anschließen.
Zweisprachig aufwachsende Kinder mit ganz unterschiedlicher Kontaktintensität und Kontaktqualität mit der zu erwerbenden Zweitsprache werden aber ungeachtet ihrer Voraussetzungen von den ersten Wochen der Einschulung an mit Schreiben und baldigem Lesen (schriftsprachliche Alphabetisierung, Silbenlesen) konfrontiert und aus defizitorientierter Handlungsperspektive betrachtet: "Schüler 'mit Migrationshintergrund' werden nicht dadurch ungerecht behandelt, dass ihnen keine pädagogische Sondermaßnahmen zur Seite gestellt werden, sondern in erster Linie dadurch, dass sie als festgelegt durch ihre Herkunft, oder als Produkte einer als abweichend postulierten familiären Enkulturation betrachtet werden [...]" (Stojanov, 2007, S.42, H.i.O.)
Sollte „Inklusive Pädagogik“ tatsächlich eine bürgerrechtliche und emanzipatorische Bedeutung haben, so geht es um „die Anerkennung von Vielfalt und um die Reflexion von hergestellter Differenz als Voraussetzung für eine Pädagogik, die diese bürgerrechtliche Dimension ernst nimmt.“ (Dannenbeck, 2012, H.i.O.), denn selbst wenn wir beim Begriffe-Verwechsel-Spiel Integration/Inklusion teilnehmen, so teilen diese beiden Begriffe im Kontext unserer Institution Schule die entscheidende Frage danach, wie sich Teilhabe an gesellschaftlichem Leben für diskriminierungsgefährdete Menschen derzeit gestaltet und wie sie sich in Zukunft gestalten soll. Teilhabe - wie sie Basil Bernstein definiert - „meint, dass sich die Betroffenen als Mitglieder bzw. Teilhaber der Gesellschaft nicht nur etwas erwarten dürfen oder etwas erhalten sollen, sondern auch Bereitschaft zeigen etwas zu geben“ (Strahler-Pohl/Sertl, 2016).
Welches pädagogische Handlungskonzept der Schule herrscht aber gegenwärtig in der Migrationsgesellschaft vor, um Barrieren und Ausgrenzungen zugunsten einer gesellschaftlichen Teilhabe diskriminierungsgefährdeter Kinder und Jugendlicher abzubauen?
Teilhabe an Bildung in der Migrationsgesellschaft?
Um sich der Antwort zu dieser Frage anzunähern, bitte ich Sie darum, noch einmal zum Anfang dieses Artikels zurückzublättern. Sehen wir uns diese Meme noch einmal an. Machen wir es wie Peter Handke in seinem großen Roman "Die Wiederholung" (1986), indem wir etwas nicht einfach nochmals ansehen (wiederholen), sondern es uns bei der erneuten Betrachtung tatsächlich wieder holen, weil wir mit neuen Augen sehen werden, wenn wir all das bisher Gesagte gleichzeitig mitdenken.
Betrachten wir diese Meme erneut, eröffnet sich ein wahrscheinlich unbeabsichtigter Kommentar auf eine oftmals vorherrschende Art von Förderkultur im öffentlichen Schulsystem. Angenommen die Holzkiste steht als Einheit metaphorisch für ein genormtes Zeitmaß an Unterstützung für Einzelne mit Förderbedarf, lässt sie sich z.B. mit der Stundenanzahl an Förderung gleichsetzen, die Einzelne durch die Betreuung von Lehrkräften mittels Schulaufsicht zugesprochen bekommen.
Es wird kein Unterschied bei den Einzelnen gemacht, um welche Art und welchen Grad der Förderung es sich handelt: Es gibt Holzkisten. Warum aber bekommen alle die gleiche(n) Holzkiste(n)? Wie wäre es mit einer mit individualisierenden Förderung, die die jeweiligen Bedürfnisse berücksichtigt: Wie wäre es mit einer Leiter, einem Hocker, einer Hebebühne oder - es darf auch weniger sein - einem dicken Telefonbuch?
Wird die unterschiedliche Körpergröße der drei Personen betrachtet, kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass diese Meme die drei sozialen Schichten und ihren Bezug zum Schulsystem darstellt. Der Erwachsene repräsentiert die Oberschicht, der Jugendliche die Mittelschicht und das Kind die sozio-ökonomisch und sozio-kulturell benachteiligte Unterschicht. Gemäß der Analysen weltweit hat bereits der österreichische Nationale Bildungsbericht 2012 in Kapitel 5 „Chancengleichheit und garantiertes Bildungsminimum“ festgestellt, dass der sozio-ökonomische und der sozio-kultureller Status der Einzelnen die zentralen Faktoren für Bildungsnachteile und -misserfolge sind (NBB, 2012, S. 24f.). Folgerichtig bekommt die Mittelschicht in ihrer („eigenen“) Mittelschichtsinstitution Schule stets eine Kiste, während die Oberschicht bei „Fairness“ eine Kiste an die Unterschicht weitergibt.
Es stellt sich nun die Frage, ob diese Auslegung der Realität entspricht? Haben sich die drei Personen gar untereinander ausgemacht, wer wie viele Kisten erhält? Was diese Meme mit ihren Kisten jedenfalls nicht darstellen kann, sind die gegebenen sozialisatorischen Voraussetzungen zur Bildung. Ist es nicht viel mehr so, dass im Schulsystem die Unterschicht zwei Kisten stemmen muss, um etwas zu sehen, während die Oberschicht gemütlich am Zaun des sozialen Systems Schule lehnt? Bei dieser Variante stemmt selbst die Mittelschicht eine Kiste ohne etwas zu sehen. Wenn die Oberschicht aber im öffentlichen Schulsystem sowieso eine Kiste abgeben muss, flüchtet sie in die Privatschule. Sie verschwindet bald von der Bildfläche, so wie es sich in den USA, dem Vereinigten Königreich und in Deutschland bereits in der Realität abzeichnet. Bei all diesen Interpretationen der Meme fällt ein Punkt besonders frappant auf: Die drei stehen am Zaun und sehen zu. Vor ihnen der Zaun als Barriere, kennzeichnend für Exklusion. Was hat Exklusion mit Gleichberechtigung und Fairness im Bildungssystem zu schaffen?
Teilhabe am sozialen System Schule aus systemtheoretischer Sicht
Niklas Luhmann beschreibt in seinem Werk „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“ (2002) das Bildungssystem als ein Subsystem, das die Gesellschaft übergeordnet als tragendes soziales System hat, (Luhmann 2002, S.13). Der systemtheoretische Inklusionsbegriff ist diesem sozialen System Gesellschaft übergeordnet, er "charakterisiert wertneutral das moderne Passungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. die Voraussetzung für die Entstehung und Aufrechterhaltung der differenzierten Gesellschaftsstruktur" (Wansing 2007, S. 278) und erfolgt ganz im Sinne der spezifischen Inklusionslogik des gesellschaftlichen Teilsystems.
Durch funktionale Differenzierung wird das tragende soziale System in Subsysteme gegliedert. Das Bildungssystem als soziales System hat als Operation die Kommunikation. Luhmann spricht von „doppelter Kontingenz“, wenn er beschreibt, dass jedes System (Schule wie SchülerInnen) im Ungewissen darüber ist, was das andere System tun wird. Es handelt deshalb jeweils in Abhängigkeit von den Aktionen des andern. Demnach ist jedes System mit Störungen beschäftigt, um ihren eigenen Bestand zu sichern (Selbstorganisation), indem es eigene Strukturen entwickelt und sich selbst stabilisiert (Autopoiesis). Das selbstaktive System verdankt seine eigenen Merkmale, Elemente, Operationen, Strukturen und Grenzen sich selbst.
Das soziale System Schule mit seinem segregierenden Charakter hat in der nun bereits Jahrzehnte lang währenden Beschulung von „Ausländern“ (Jargon der 1980er- und 1990-Jahre) und „Menschen mit Migrationshintergrund“ (Jargon der 2000er-Jahre) m.E. gezeigt (Castro Varela et al 2010, S. 115), dass wenn nun eigentlich„ […] die ‚ausländischen‘ Schüler und Schülerinnen, für die Eingliederungs- und Fördermaßnahmen gedacht sind, von einem Tag auf den anderen fortbleiben und die Maßnahmen eingestellt werden [würden], so würde dies die Schule als Institution - auch nach mehr als dreißig Jahren Integration ‚ausländischer‘ Schülerinnen und Schüler - in ihrer Funktionsweise nicht beeinträchtigen, im Gegenteil: Sie könnte nun tatsächlich ‚störungsfrei‘ arbeiten.“ (Krüger-Potratz, 2000, S.380).
Für das soziale System Schule ist gesellschaftliche Teilhabe gar kein Thema, Selbstorganisation ist das Um und Auf. Das kann auch nicht verwundern, denn Akteure sozialer Systeme "[…] handeln entsprechend generalisierter Interessen, die in der Handlungslogik sozialer (Sub-)Systeme verkörpert sind, sowie im Rahmen der sozialen Mechanismen, die die Aufrechterhaltung sozialer Organisationen bewirken" (Schmidt, 1996, S.112).
Es stellt sich demnach die Frage, ob die nun "verordnete" Inklusion im Bildungssystem als fruchtbringend bezeichnet werden kann, denn es scheint eine grundlegende Bedingung für "Inklusive Pädagogik" zu sein, dass gesellschaftlich aus eigenem Antrieb und aus der eigenen Erfahrung heraus, Entwicklungsschritte gegangen werden, um Veränderungen anzugehen. Der Gedanke einer Implementierung widerspricht diesem Ansatz: "Implementierung gleicht einem top-down-Ansatz, in dem vorgegeben und 'expertokratisch' entschieden wird, wie Inklusion umzusetzen sei – und das auf ganz unterschiedlichen (administrativen) Ebenen. Bei solch einem expertengeleiteten Vorgehen scheinen Widerstände vorprogrammiert zu sein. In unterschiedlichen Schulentwicklungsmaßnahmen konnte das sehr anschaulich gezeigt werden" (Schache 2012). Auf die Frage „Was nimmt Einfluss auf die Umsetzung von Inklusion?“ konstatiert Dlugosch entstandene Einflussmatrizen, aus denen für sie sichtbar wird, dass „Inklusion“ nach einer Mehrebenenkonstellation verlangt, die weder top-down verordnet noch bottom-up aufgebaut werden kann, (Dlugosch 2013). Ändert sich aber die Gesellschaft nicht, kann sich die Schule nicht ändern. Adorno paraphrasierend, stellten bereits Hazibar und Mecheril fest, dass es "keine richtige Pädagogik in falschen gesellschaftlichen Verhältnissen" geben kann:
"Pädagogische Angebote sind da illusionär, wo sie unausgesprochen versprechen, durch beispielsweise schulische Bildung zu einem gleichberechtigten Einbezug in und Teilhabe an gesellschaftliche(n) Teilbereiche(n) derer beizutragen, die aufgrund der Normalitätsannahmen und Anforderungen der Teilbereiche (z.B. Arbeitsmarkt) weiterhin schlechter gestellt bleiben. In einem mehrgliedrigen, sozial hoch selektiven Schul- und Bildungssystem, welches zunächst formal die gleichen Zugangsbedingungen vorgibt, lässt sich das Versprechen auf die Realisierung gleicher Teilhabechancen nicht halten", (Hazibar/Mecheril 2013).
Fazit
Ändern sich nicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Schulsystem rahmen, um pädagogisches Handeln in der Migrationsgesellschaft möglich zu machen, wird Inklusion nicht realisierbar werden, denn "anzuerkennen ist, daß keine Organisation ihre eigenen Werte unabhängig von entsprechenden Wertungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt setzen kann", (Luhmann 2002, S.159). Es stellt sich auch die Frage, ob die Republik Österreich tatsächlich gewillt ist, Rahmenbedingungen herzustellen, um "Inklusive Bildung" möglich zu machen, denn dazu braucht es "den politischen Willen zur Realisierung der institutionellen, strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen.“ (Dannenbeck, 2012) Die Realität des selektiven sozialen Systems Schule ist wahrzunehmen, um von diesem Punkt aus, pädagogische Handlungskonzepte für ressourcenorientierte Förderkultur anzudenken. Sollte dies nicht geschehen, werden die drei abgebildeten Figuren der Meme auch weiterhin die Zaungäste des heutigen Bildungssystems bleiben.
ANMERKUNGEN
(1) Die Meme zählt zu den bekanntesten Internetphänomenen der letzten Jahre. Zurückgehend auf das griechische Wort "mimema" wird damit eine Datei bezeichnet, die imitiert wurde. Imitationen sind in Zeiten digitaler Bild- und Video-Bearbeitung schnell hergestellt, und auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs haben Memes bereits ihren Platz eingenommen.
(2) Mit dem Begriff „Migrationsandere“ werden gemäß Konzepten der Migrationspädagogik Prozesse und Phänomene der Konstruktion, Bewältigung, Bewahrung und Veränderung natio-ethno-kultureller Differenz unter bestimmten Bedingungen in den Blick genommen. Dieser Begriff dient als ein begriffliches Werkzeug der „Konzentration, Typisierung und Stilisierung für eine in einer Migrationsgesellschaft als Andere geltende Person“ (Mecheril 2010, S.17).
Dieser Text ist eine Version des Texts: Rainer Hawlik (2017) „Pädagogisches Handeln unter den Bedingungen einer Migrationsgesellschaft“. In „Erziehung und Unterricht“ (3+4). öbv: Wien. S.285-S.293
Literatur
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