Wer hat das Recht auf Menschenrechte in der Migrationsgesellschaft?

  

Menschenrechtsbildung unter Beachtung migrationsgesellschaftlicher Differenzverhältnisse sensibilisiert für die (Eigen-)Positio­nierung künftiger Lehrer/innen im pädagogischen Feld. Dieser Beitrag dokumentiert nach einer Einleitung zunächst eine Erhebung, bei der im Jahr 2018 an der PH Wien eine Gruppe Studierender des Lehramts Primarstufe (n = 208) zu den von ihnen vertretenen Überzeugungen (Einstellungen und Haltungen als ‚beliefs‘) bezüglich der Lage mehrsprachiger Schüler/innen und ihren Eltern in einem als segregierend charakterisierten österreichischen Schulsystem befragt wurden. Problematisierende und problematische Items zu struktureller Ungleichheit und Machtunterschieden sind die Vorlage für den entscheidenden zweiten Schritt: Die Items und die Ergebnisse der hier präsentierten Stichprobe werden zum Gegenstand in der Lehrer/innenbildung.  
 
1.    Wer hat das Recht auf Menschenrechte in der Migrationsgesellschaft?

Die Verpflichtung, die Allgemeinen Menschenrechte zu respektieren, wird von den meisten Staaten formal freiwillig übernommen. Unter sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen werden sie seitdem immer wieder neu diskutiert und interpretiert.[1] So führt zum Beispiel zur allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der US-amerikanische Politologe Fukuyama aus, „ [...] dass sich die Menschenrechtsgesetzgebung weiterentwickelt habe und die Staaten ihre Pflichten nicht nur ihren eigenen Bürgern, sondern auch Einwanderern und Flüchtlingen gegenüber zu erfüllen hätten“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2247). Fukuyama tritt dabei in seinem Buch „Identity“ (2018, dt. 2019) vehement für eine „nationale Bekenntnisidentität“ ein, der Zugewanderte Folge zu leisten hätten. Nur wer sich als Zugewanderte/r zu Konstitutionalismus, Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit bekennt, soll die Staatsbürgerschaft in einem Land erlangen. Selbst wenn alle Menschen über ein Grundrecht auf Staatsbürgerschaft verfügen, das ihnen gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht willkürlich genommen werden kann, bedeutet das laut Fukuyama „[…] nicht, dass sie dieses Recht in jedem beliebigen Land für sich beanspruchen können. Zudem stellt das Völkerrecht nicht die Befugnis von Ländern in Frage, ihre Grenzen zu sichern und Kriterien für die Staatsangehörigkeit festzulegen […]“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2817).  In Europa stellt Fukuyama eine seit Jahrzehnten falsch geführte Integrationspolitik fest: 
 
„[...] In den letzten Jahrzehnten hat die europäische Linke eine Form des Multikulturalismus unterstützt, die kaum Wert darauf legt, Neuankömmlinge in nationale Kulturen zu integrieren. Unter dem Banner des Antirassismus hat sie die Anzeichen dafür heruntergespielt, dass die Integration nicht funktioniert. Die neue populistische Rechte dagegen schaut nostalgisch auf eine verblassende Nationalkultur zurück, die auf Ethnizität oder Religion basierte – eine Kultur, in der Einwanderung und Vielfalt kaum existierten [...]“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2679).
 
Es wurde laut Fukuyama in Europa schlichtweg versäumt, „[...] Einwanderer zu assimilieren [...]“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2411), weil in vielen europäischen Staaten in der Einwanderungspolitik lange Zeit nicht das in den USA praktizierte Ius Soli, sondern das Ius Sanguinis angewandt wurde.[2] Das für das Einwanderungsland USA typische Ius Soli hält Fukuyama auch für alle Länder der EU für längst überfällig und fügt an: „Es ist völlig legitim, strenge Einbürgerungsvorschriften zu erlassen, wie es in den Vereinigten Staaten seit vielen Jahren der Fall ist. Dort erwartet man von Bewerbern neben fünfjähriger fortlaufender Ansässigkeit, dass sie fähig sind, einfaches Englisch zu lesen, zu schreiben und zu sprechen; dass sie Kenntnisse der Geschichte und der Regierung des Landes aufweisen; dass sie kein Vorstrafenregister besitzen; und dass sie ihre Verbundenheit mit den Prinzipien und Idealen der US-Verfassung durch Ablegung des [...] Treueeids auf die Vereinigten Staaten demonstrieren“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2697).
 
 
1.1.        „Nichtmuttersprachler“ als Nicht-Wir

Fukuyama ist ein Beispiel dafür, wie trotz Bekenntnissen zu Menschenrechten die Rechte von Migrationsanderen[3] beschnitten werden: Wann wird die Würde eines Menschen unantastbar? Vor oder erst nach der „Assimilation“? Fukuyama betreibt eine starke Dichotomisierung zwischen „Wir“ und „Nicht-Wir“. Gleichzeitig lässt er jedoch politische Staatsgrenzen mit denen von Kulturgemeinschaften zusammenfallen, „wobei Kultur auch überwiegend durch eine geteilte Sprache definiert wird" (Fukuyama, 2019, Pos. 2577). Mehrsprachige Programme an öffentlichen Schulen hält er demnach für maßlos überschätzt und unangebracht: „Wie in Europa wird die Integration auch in den USA durch politische Maßnahmen gebremst, etwa dadurch, dass man im Schulwesen von New York City ungefähr 13 Sprachen verwendet. Bi- und multilinguale Programme werden als Mittel für den rascheren Englischerwerb von Nichtmuttersprachlern vermarktet. Sie haben jedoch eine eigene Lobby entwickelt, nämlich die Bürokratie des Erziehungswesens, die ihre Vorrechte unabhängig vom tatsächlichen Spracherwerb verteidigt“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2780).
Einer „Nicht-Wir“-Gruppe, die sich seit dem sogenannten Arabischen Frühling gebildet hat, schenkt Fukuyama in Europa besondere Aufmerksamkeit: „Das Identitätsproblem ist besonders akut für junge Muslime der zweiten Generation, die in westeuropäischen Einwandererkreisen aufwachsen. Sie leben in vorwiegend weltlichen Gesellschaften mit christlichen Wurzeln, also in einer Umgebung, in der ihre religiösen Werte und Bräuche nicht öffentlich unterstützt werden. Ihre Eltern stammen häufig aus geschlossenen Dorfgemeinschaften, in denen lokale Formen des Islam, etwa die sufische Heiligenverehrung, praktiziert werden. Wie vielen Kindern von Immigranten liegt ihnen daran, sich von der altmodischen Lebensweise ihrer Familien zu distanzieren. Aber es fällt ihnen schwer, sich ihrer neuen europäischen Umgebung anzupassen.“ (Fukuyama, 2019, Pos. 1126)
 „Nichtmuttersprachler“ findet Fukuyama in „Einwandererkreisen“ urbaner Räume, die, wenn sie ein gewisses Ausmaß erreichen, größtenteils autark werden und auf Verbindungen zu externen Gruppen verzichten können: „Es ist auch möglich, dass sie die öffentlichen Dienste und die Aufnahmefähigkeit von Schulen und anderen staatlichen Einrichtungen überstrapazieren.“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2807). 
 
1.2.        Kulturkampf im Wiener Klassenzimmer

Autark lebende „Nichtmuttersprachler/innen“ hat Susanne Wiesinger auch – nahezu überstrapazierend – in Wiener Schulen wahrgenommen. Sie schließt mit ihrem Buch „Kulturkampf im Klassenzimmer“ (2018) nahtlos an Fukuyamas Wehklagen über Schüler*innen aus Einwandererkreisen an und diffamiert besonders eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen: „Sobald die Muslime im Klassenzimmer in der Mehrzahl sind, geben sie den Ton an. Wir Lehrer können das akzeptieren oder einen Kampf beginnen, den wir nicht gewinnen können. Anpassung ist zum Reflex geworden“ (Wiesinger, 2018, Pos. 579). Wiesinger schrieb ihre Brandschrift, weil sie nicht mehr zusehen wollte, „wie muslimischen Schülern unser kulturelles Leben vorenthalten wird, weil es in den Augen ihrer Eltern harām (religiös verboten) ist“ (Wiesinger, 2018, Pos. 155). 
Wiesinger betreibt äußerst deutlich ‚Othering‘ und trennt dabei scharf zwischen „Wir“ und „Nicht-Wir“, denn „[…] eigentlich wollen diese Kinder ja zu uns gehören und die Freiheiten unseres westlichen Lebensstils genießen. Aber sie können nicht. Es gibt eine Kraft, die sie zurückhält, die stärker ist als alles andere: ihr muslimischer Glaube. Er kontrolliert und lenkt sie […]“ (Wiesinger, 2018, Pos. 119).  
Ausgehend von Wiesingers Vorstellung einer Mehrheitsgesellschaft mit einem von ihr durchdeklinierten Kulturbegriff konstatiert sie: „Was den betroffenen Kindern und Jugendlichen am meisten schadet, sind falsche Toleranz und Stillschweigetaktik gegenüber dem radikal-konservativen Islam“ (Wiesinger, 2018, Pos. 202). Wiesingers Vorstellung von „gerechter“ Kultur, die sich nicht zu rechtfertigen hat, formuliert Fukuyama wie folgt: „Die liberale Demokratie hat ihre eigene Kultur, und diese muss höher eingestuft werden als Kulturen, die demokratische Werte ablehnen.“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2674).
Die im Buch beschriebenen Einstellungen und Haltungen, aber auch die Vorgehensweisen im (schulischen) Umgang mit diesen Schülern aus vermeintlich benachteiligter sozio-ökonomischer Schicht geben zu denken. Verunglimpfenden Aussagen dominieren den Text: „Diese Ohnmacht provoziert unter Lehrern manchmal Aussagen, die von purer Verzweiflung geprägt sind. ‚Man müsste den Eltern die Kinder wegnehmen! Ich würde denen am liebsten die Kinderbeihilfe streichen und die Mindestsicherung kürzen! Wozu kriegen sie die Kinderbeihilfe, wenn sie sie nicht in ihre Kinder investieren, sondern stattdessen in ihre Reise nach Mekka und in ihren depperten BMW?!’ Das ist alles nicht so gemeint, es sind Sätze aus der Emotion heraus. Es ist unsere Art und Weise, mit Frustration und Desillusionierung umzugehen. Manchmal hilft für den Moment nur mehr Sarkasmus und Zynismus“ (Wiesinger, 2018, Pos. 884). Das Lehrerzimmer fungiert hier als Echoraum für Frust- und Kränkungserfahrungen mit als ‚anders‘ markierten Schüler/innen und ihren Eltern. 
 
2. Forschungsvorhaben 

Menschenrechte, wie sie Fukuyama und Wiesinger verstehen, scheinen nur einer bestimmten, sich assimilierenden (!?) Gruppe von Menschen in einer liberalen Demokratie gewährleistet zu werden. Ziel der nun im Folgenden beschriebenen Untersuchung war es, Lehramtsstudierende des Lehramts für Primarstufe an der PH Wien mit Items zu konfrontieren, die den Fokus auf diesen widersprüchlich geführten Diskurs über das Anrecht auf Menschenrechte für mehrsprachige Schüler/innen und ihre Eltern aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen (als eine marginalisierte Gruppe) in der gesellschaftlichen Institution Schule zum Thema haben. 
Das Forschungsvorhaben bestand zunächst darin herauszufinden, ob künftige Primarstufenlehrer/innen die Situation strukturell und kulturell diskriminierter mehrsprachiger Schüler/innen (und ihrer Eltern) aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen im österreichischen Schulsystem wahrnehmen und welche Überzeugungen (Einstellungen und Haltungen als ‚beliefs‘) sie vertreten. Es wird in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass strukturelle Ungleichheit und Machtunterschiede, die in der Institution Schule durch Segregation reproduziert und verfestigt werden, u. a. durch die Kulturalisierung von Konflikten – als Beispiele wurden hierfür eine politische Theorie von Fukuyama sowie der Erfahrungsbericht von Wiesinger angeführt - aus dem Fokus geraten. Durch die simple Reduktion des Erklärungsmusters wird übersehen, dass die wesentliche Ursache von Konflikten in der Migrationsgesellschaft nicht in kulturellen Differenzen und mangelndem Verstehen zwischen sogenannten „Kulturen“ zu suchen sind, sondern vielmehr bei sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung und Praktiken der Ungleichbehandlung zu finden sind, die als Ausdruck struktureller Gewalt interpretiert werden können: „Der Zugehörigkeitsstatus bestimmt, wer als handlungsfähiges Subjekt an wirkmächtigen gesellschaftlichen Positionen verortet wird, und wer sich sprachlos und handlungsunfähig in marginalen Handlungsspielräumen erfährt“ (Thomas-Olalde & Velho, 2011, S. 27)
 
 
3.    Erster Schritt: Forschungsfrage, Erhebung

Im ersten Schritt ging es um eine Erhebung mit ausgewählten Items; im zweiten Schritt – auf den im Rahmen dieses Beitrags ein Ausblick geboten wird – um eine Didaktisierung für die Lehrer/innenbildung, die unter Verwendung der Erhebungsergebnisse den Fokus auf die Items der Erhebung legt und diese mit den Studierenden diskutiert.
Die Forschungsfrage der Erhebung lautete: Welche Überzeugungen (Einstellungen und Haltungen als ‚beliefs‘) haben Studierende des Lehramts Primarstufe angesichts struktureller Ungleichheit und Machtunterschieden, die in der Institution Schule reproduziert und verfestigt werden? Dabei wurde von der Hypothese ausgegangen, dass eine höhere Semesterzahl mit einer erhöhten Einsicht auf die Situation strukturell und kulturell diskriminierter mehrsprachiger Schüler/innen (und ihrer Eltern) aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen im österreichischen Schulsystem einhergeht. Dies soll sich in den vertretenen Überzeugungen (Einstellungen und Haltungen als ‚beliefs‘) widerspiegeln.
Durch das fortschreitende Studium des seit 2015/16 erstmals achtsemestrigen Studiums Primarstufe (PädagogInnenbildung NEU) konnten zwei Gruppen mittels Fragebogen an der PH Wien befragt werden. Von 216 abgegebenen Fragebögen ergaben sich n = 208 als gültig, was einer Rücklaufquote von 96,29 % entspricht. Von den gültigen Fragebögen stammten 84 von Studierenden des 1. bis 4. Semesters, 124 Fragebögen von Studierenden des 5. bis 8. Semesters. Der Fragebogen besteht aus 15 Einzelitems, die Aussagen umfassen. In der Auswertung haben 43 Studierende der PH Wien (20,67 %) angegeben eine oder mehrere andere Erstsprachen zu sprechen. Es handelte sich bei dem Fragebogen um Ordinalskalen, die Antworten mit der Rangordnung einer Likertskala Trifft nicht zu, Trifft eher nicht zu, Trifft eher zu, Trifft zu oder „keine Angabe“ versieht. Als „keine Angabe“ gilt, wenn Trifft nicht zu, Trifft eher nicht zu, Trifft eher zu, Trifft zunicht angekreuzt wurde. Dieses Skala-Design entspricht jener des SACIE-R Fragebogens (Forlin et al., 2011; Feyerer et al., 2013), die als bereits vorhandene Forschung Anregungen bot. 
Fehlende Daten wurden im Datensatz durch visuelle Kontrolle erfasst. Datensätze ab vier nicht beantworteten Fragen wurden eliminiert. Es wurde aber entschieden, die Anzahl fehlender Werte bei den nicht-eliminierten Bögen zu ermitteln, da sie Informationen darüber liefern, wie viele der Personen bei einer bestimmten Aussage „keine Angabe“ machen: Sei es, weil sie sich weigerten, auf die Aussage einzugehen; sei es, weil sie die Antwort nicht wissen; sei es, weil sie keine Angabe machen; sei es wegen fehlender Urteilsfähigkeit oder wegen ihrer nicht vorhandenen eigenen Verortung. 
Es ist ferner zu betonen, dass eine Untersuchung wie diese, die soziale Macht- bzw. Ungleichheitsverhältnisse zum Thema hat, sich als Forschung auch selbstbezüglich kritisch markieren muss, denn dieser Fragebogen wurde im Jahr 2018 im Rahmen von Seminaren und Vorlesungen an der Pädagogischen Hochschule Wien unter der Anwesenheit von Hochschullehrenden in Papierform erhoben. Hier gilt zum einen der Dank meinen Kolleg/innen für ihre Unterstützung, aber es ist natürlich zu beachten, dass ihre körperliche Präsenz in den jeweiligen Räumen in Wien-Favoriten naturgemäß mitgedacht werden muss: Es besteht die Möglichkeit, dass sich Studierende bei der Befragung des Fragebogens auch bewusst „sozial erwünscht“ verhielten; der Raum der Befragung ist von der Befragung nicht unabhängig, der „soziale Ort Hochschule beeinflusst die Art und Weise, was sagbar und unsagbar ist“ (Messerschmidt, 2011, S. 89).  
 
3.1.        Problematisierende, aber auch problematische Items
 
Aus professionsethischer Sicht der Lehrer/innenausbildung war es unbedingt notwendig, den Studierenden im Rahmen der Seminare im Anschluss an die Erhebung schon im ersten Schritt eine Diskussion anzubieten und mit ihnen die Items des Fragebogens eingehend zu diskutieren und zu klären.
Eingebundene Items dieser Untersuchung mit Wortlauten wie „Interkulturelle Kompetenz: Da haben nicht wir als Mehrheitsgesellschaft, sondern Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund einiges aufzuholen“; „Es besteht das Recht auf kulturelle Entfaltung, aber nur in den letzten Maßen, in denen es für die Integration sinnvoll ist“; „Da viele Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund die Integration ihrer Kinder behindern, ist es wichtig, dass diese Eltern ‚Wertekurse‘ besuchen“ sind als Setzungen von sozialen Macht- bzw. Ungleichheitsverhältnissen zu verstehen, die bewusst natio-ethno-kulturelle Zuweisungen der Ausländerpädagogik und der Interkulturellen Pädagogik vornehmen und überdeutlich von Inferiorisierungen und Othering zeugen. Es ist auch evident, dass selbst auf Wortebene jede einzelne befragte Person unter Begrifflichkeiten wie z. B. „kulturelle Entfaltung“, „interkulturelle Kompetenz“, „Integration“ individuelle Vorstellungen entwickelt. Dadurch wird deutlich, dass dieser Untersuchung mit solchen problematischen Items unterstellt werden kann, sie sei tendenziös und repräsentiere provokant einen in Boulevardmedien geführten Diskurs, der mit solchen Aussagesätzen als Items den Anschein erwecken will, ausgerechnet an diesem beschriebenen sozialen Ort Hochschule nun endlich sagen zu können, was als (eigentlich) unsagbar gilt. Dem kann entgegengehalten werden, dass zur Konzeption eines Fragebogens innerhalb eines als problematisch ausgezeichneten Forschungsfeldes „[...] die subjektive und objektive Schwierigkeit des Schreibens [...] nicht nur daher [kommt], dass man der Sprache abverlangt zu sagen, was sie eigentlich zu verneinen und zu verleugnen hat. Wenn Fragen, die notwendig gestellt werden müssen, um den Gegenstand zu konstituieren, vorab schon im Gegenstand selbst als barbarisch abqualifiziert sind, ist es nicht leicht, den rechten Ton zu treffen, der Alternative von Beweihräucherung und Provokation, die nur deren Umkehrung ist, zu entgehen [...]“ (Bourdieu, 1982, S. 797). 
Problematische und zugleich problematisierende Items wurden gewählt, weil es als nicht zielführend erachtet wurde, ausschließlich leicht abgewandelte Kinderrechte, wie z. B. „Kein/e Schüler/in darf – egal aus welchen Gründen (Hautfarbe, Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache, Geschlecht, Religion, Behinderung, Vermögen der Eltern etc.) – benachteiligt werden“ mittels Likertskala zu erfassen. Als Kontroll-Item wurde dies von 95% als „Trifft zu“ gewertet; ein Item aber wie „Interkulturelle Kompetenz: Da haben nicht wir als Mehrheitsgesellschaft, sondern Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund einiges aufzuholen.“ unterstellt hingegen den Befragten, dass sie alle zur „Mehrheitsgesellschaft“ gehören und erwägt nicht einmal, ob nun erwachsen gewordene „Kinder mit Migrationshintergrund“ unter ihnen sind. So ist auch zu erkennen, dass ein Item wie „Es besteht das Recht auf kulturelle Entfaltung, aber nur in den Maßen, in denen es für die Integration sinnvoll ist“ bewusst nicht legitime Einschränkungen vornimmt, denn entweder es besteht das „Recht auf kulturelle Entfaltung“ oder es besteht nicht. Da gibt es kein Wenn und Aber, es handelt sich hier um „elementare Freiheiten“ (vgl. Taylor, 2009, S. 45). 
Kultur wird in der Migrationspädagogik als faktische und imaginative Praxis der Erzeugung, Bewahrung und Veränderung von symbolischen Differenzen und sozialen Macht- bzw. Ungleichheitsverhältnissen interpretiert (vgl. Hormel & Jording, 2016, S. 222).
Diesem Erklärungsmuster „Kultur“ entspricht der Anspruch der Majoritätsgesellschaft, die klassische Gretchenfrage zu stellen: „Wie hältst du es mit der Religion?“ – Im pädagogischen Kontext stellt eine bestimmte Erwartungshaltung die Differenz her: An muslimische Schüler/innen bestehen andere Erwartungshaltungen als an nicht-muslimische Schüler/innen. Problematisch wird diese Zuweisung, wenn sie religiös „Anderen“ systematisch gesellschaftlich niedrigere Positionen zuordnet. Schüler/innen lernen unter diesen Bedingungen erst, „[…] zu MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen zu werden, wobei […] dieser Lernprozess auch einer ist, in dem Kinder in das Schema von Höher- und Minderwertigkeit eingeführt werden […]“ (Mecheril & Lingen-Ali, 2017, S. 23). 
 
4. Einblick in die Darstellung der Ergebnisse 

Im ersten Item wurde die Kulturalisierung von Konflikten thematisiert: „Es besteht das Recht auf kulturelle Entfaltung, aber nur in den Maßen, in denen es für die Integration sinnvoll ist.“ Diese Aussage werteten die Studierenden zu 59 % mit „Trifft zu“ oder „Trifft eher zu“, wobei der absolute Zuspruch „Trifft zu“ bei Studierenden vom ersten Studienabschnitt von 33 % auf 21 % unter Studierenden des zweiten Studienabschnitts abnimmt. Auch die absolute Ablehnung mit „Trifft nicht zu“ nimmt von 11 % (erster Studienabschnitt) auf 21 % (zweiter Studienabschnitt) zu. 
Ein ähnliches Bild zeichnet folgende Überzeugung, die die Deutungshoheit bei kulturellen Differenzen aufgrund „mangelnden Verstehens“ zwischen den Kulturen eher beim „Nicht-Wir“ verortet und das souveräne „Wir“ behauptet: „Da viele Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund die Integration ihrer Kinder behindern, ist es wichtig, dass diese Eltern ‚Wertekurse‘ besuchen“. Gleichermaßen wurde sowohl im ersten als auch im zweiten Studienabschnitt diese Einstellung in beiden Gruppen mit „Trifft eher zu“ zu 40 % beurteilt. Während „Trifft eher nicht zu“ von Studierenden im ersten Studienabschnitt zu 30% gewählt wurde, ist das für Studierende im zweiten Studienabschnitt bei 26 % der Fall. 
Thematisch findet das folgende Item Anschluss an seinen Vorgänger, bei der eine bestimmte Erwartungshaltung die Differenz herstellt: „Schule bedeutet für Kinder mit Migrationshintergrund Integration: Es gelten Normen und Werte der christlich geprägten Kultur unseres Landes.“ (Item 8). Hier nimmt die Mehrheitsgruppe, die dieses Item mit „Trifft zu“ und „Trifft eher zu“ einstuft, ab: von 56 % im ersten Studienabschnitt auf 50 % im zweiten Studienabschnitt.  Als Abschluss dieses Bereichs gilt das Item 13, das sich einem Vorwurf der oftmals auftretenden Fehlinterpretation eines österreichischen Unterrichtsprinzips widmet, bei dem sowohl im Ansatz der Hilfe und Unterstützung wie auch „im Ansatz der Bereicherung Dominanzverhältnisse ausgeblendet bleiben“ (Messerschmidt, 2011, S. 92): „Interkulturelle Kompetenz: Da haben nicht wir als Mehrheitsgesellschaft, sondern Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund einiges aufzuholen.“ Die Gruppe, die dieses Item mit „Trifft zu“ und „Trifft eher zu“ von 31 % im ersten Studienabschnitt wertet, sinkt auf 25 % im zweiten Studienabschnitt ab.
 
 
4.1. Interpretation, Diskussion und Ausblick auf den zweiten Schritt
 
Pädagogische Studiengänge bieten die Möglichkeit, die Schule als gesellschaftliche Institution mehrperspektivisch zu erleben und Rückschlüsse für das eigene pädagogische Handeln zu entwickeln
. Die Hypothese, dass eine höhere Semesterzahl anhand der befragten Überzeugungen mit einer differenzierten Einsicht auf die Situation strukturell und kulturell diskriminierter mehrsprachiger Schüler*innen (und ihrer Eltern) aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen im österreichischen Schulsystem einhergeht, lässt sich anhand der angeführten Ergebnisse zwar bestätigen, aber signifikante Änderungen der vertretenen Überzeugungen bei fortschreitendem Studienverlauf sind nicht bemerkbar. Gesellschaftliche Dominanzverhältnisse werden von den Studierenden zwar wahrgenommen, aber als angehende Lehrkräfte sehen sie sich laut dem Ergebnis dieser Stichprobe eher als Teil einer unhinterfragten Mehrheitsgesellschaft. Oder anders formuliert: „[...] die (hegemonialen) Ordnungen des Sagbaren zeigen sich in der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Aussagen, die diesem Regime gehorchen [...]“ (Schäfer, 2016, S. 98).  Diese Untersuchung zeigte im ersten Schritt, dass ein Desiderat der Lehrer/innenbildung in der Entwicklung eines diskriminierungs- und barrierekritischen Blicks der pädagogisch Tätigen auf ihre Profession liegen könnte. 
Um angesichts sozialer Macht- bzw. Ungleichheitsverhältnisse diesen Blickwinkel zum Thema zu machen, werden im zweiten Schritt die Items dieser Erhebung und die Ergebnisse der durchgeführten Erhebung nun selbst zum Unterrichtsgegenstand der Lehrer/innenbildung. Dabei werden die Studierenden im Zuge von Seminaren der PH Wien in einer Unterrichtssequenz mit einzelnen Items des Fragebogens konfrontiert. Anschließend wird den Studierenden Einblick in die Ergebnisse der Erhebung gewährt: Kreisdiagramme zeigen gemäß Likertskala Trifft nicht zu, Trifft eher nicht zu, Trifft eher zu, Trifft zu oder „keine Angabe“ die vertretenen Einstellungen und Haltungen zu den einzelnen Items. Es hat sich in den bisherigen Diskussionen mit den Studierenden im Rahmen von Seminaren gezeigt, dass besonders Items, die markante Einschränkungen von Menschenrechten vornehmen – wie z. B. „Es besteht das Recht auf kulturelle Entfaltung, aber nur in den Maßen, in denen es für die Integration sinnvoll ist“ oder „Es besteht das Recht auf Versammlungsfreiheit, außer es wird bei diesen Versammlungen nicht mehrheitlich in unserer Landessprache gesprochen“ – sich für Diskussionen über das Spannungsfeld sozialer Macht- bzw. Ungleichheitsverhältnisse eignen. Im Plenum werden Konflikte in der Migrationsgesellschaft angesichts sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung und Praktiken der Ungleichbehandlung diskutiert. Ein Item wie „Schule bedeutet für Kinder mit Migrationshintergrund Integration: Es gelten Normen und Werte der christlich geprägten Kultur unseres Landes“ spiegelt im Rahmen dieser Diskussion die Schule als gesellschaftliche Institution. Es scheint in diesem Sinne für die Lehrer/innenbildung entscheidend, dass angehende Lehrkräfte bereits im Rahmen von Menschenrechtsbildung während ihrer Erstausbildung das Spannungsverhältnis aufspüren, in dem sie künftig agieren werden, wenn sie gesellschaftlich geforderte, aber gleichzeitig auch pädagogisch legitimierbare Ziele erreichen sollen. 


Dieser Text erschien in abgeänderter Form unter dem Titel Professionalisierung von angehenden Lehrer/innen: Menschenrechtsbildung unter Beachtung migrationsgesellschaftlicher Differenzverhältnisse in Furch et al (Hrsg.) (2019): 1. Jahrestagung zur Menschenrechtsbildung. Schneider-Hohengehren; Baltmannsweiler, S. 60 - 69 

 

Literatur

 

Casper, Gerhard (2008). The Concept of National Citizenship in the Contemporary World. Identity or Volition?Hamburg: Bucerius Law School 2008. Zugriff am 02.06.2019 unterhttps://web.stanford.edu/group/gcasper_project/cgi-bin/papers

 

BMBWF (2018). Allgemeine Bildungsziele des Lehrplans für VolksschuleZugriff am 02.06.2019 unter https://bildung.bmbwf.gv.at/schulen/unterricht/lp/lp_vs_erster_teil_14043.pdf?61ec09

 

Bourdieu, P. (1982). Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp

 

Europarat (2017). Europarats-Charta zur Politischen Bildung und MenschenrechtsbildungZugriff am 02.06.2019 unter https://rm.coe.int/1680489411

 

Feyerer, E. Dlugosch, A., Prammer-Semmler, E., Reibnegger, H., Niedermair, C., Hecht, P. (2013). Einstellungen und Kompetenzen von LehramtstudentInnen und LehrerInnen für die Umsetzung inklusiver Bildung (Deutsche Version von SACIE-R 2011)Zugriff am 02.06.2019 unter https://ph-ooe.at/fileadmin/Daten_PHOOE/Inklusive_Paedagogik_neu/Sammelmappe1.pdf

 

Forlin, C., Earle, C., Loreman, T. & Sharma, U., (2011). The Sentiments, Attitudes, and Concerns about Inclusive Education Revised (SACIE-R) Scale for Measuring Pre-Service Teachers Perceptions about Inclusion. Exceptionality Education International 21, S. 50-66.

 

Fukuyama, F. (2019). Identität. Hoffmann und Campe. Kindle-Version. 

 

Hormel, U. & Jording, J. (2016). Kultur/NationIn: Mecheril, P., Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz, S. 211-225. 

 

Mecheril, P. & Lingen-Ali, U. (2017). Religion als soziale Deutungspraxis. Zugriff am 02.06 unter https://spezialprogramm.files.wordpress.com/2017/10/lingen-ali-ulrike-mecheril-paul-religion-als-soziale-deutungspraxis.pdf

 

Mecheril, P., Castro Varela, M., Dirim, İ., Kalpaka, A. & Melter, C. (Hrsg.) (2010): Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz.

 

Messerschmidt, A. (2011): Involviertes Forschen. In: Breinbauer, I. M. & Weiß, G. (Hrsg.) Orte des Empirischen in der Bildungstheorie: Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft II. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 81-95

 

Schäfer, A. (2016): Hegemonie. In: Mecheril et al., Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz. S. 90-105

 

Taylor, Ch. (2009): Multikulturalismus und die Politik der AnerkennungFrankfurt am Main: Suhrkamp

 

Thomas-Olalde, O. & Velho, A. (2011): Othering and its Effects – Exploring the Concept. In: Niedrig, H. & Ydesen, C. (Hrsg.): Writing Postcolonial Histories of Intercultural EducationFrankfurt am Main: Peter Lang, S. 27-51

 

Wiesinger, S. (2018). Kulturkampf im Klassenzimmer: Wie der Islam die Schulen verändert. Bericht einer Lehrerin. Edition QVV. Kindle-Version.



[1] Fernab dieses Diskurses, besteht das Wissen, dass Menschen weltweit nach ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht, ihrer Nationalität, ihrer Sprache, ihrem Aussehen, ihrer Ethnizität oder ihrer sexuellen Orientierung beurteilt werden. Jedes Individuum erlebt dabei die Missachtung ihres*seines Wesens, die eigentlich durch Artikel 2 der Menschenrechtserklärung verhindert werden sollte, auf unterschiedliche Art, während es gleichzeitig nach der Anerkennung ihrer*seiner Würde in einer (selbst) erkorenen Gemeinschaft sucht.

[2] Ius Soli bedeutet, dass jeder, der auf dem Territorium eines Landes zur Welt kommt, automatisch Staatsbürger ist. Unter dem Ius Sanguinis wird die Staatsangehörigkeit durch die Abstammung festgelegt (Casper, 2008, S.1).

[3] Mit dem Begriff „Migrationsandere“ werden gemäß Konzepten der Migrationspädagogik Prozesse und Phänomene der Konstruktion, Bewältigung, Bewahrung und Veränderung natio-ethno-kultureller Differenz unter bestimmten Bedingungen in den Blick genommen. Dieser Begriff dient als ein begriffliches Werkzeug der „Konzentration, Typisierung und Stilisierung für eine in einer Migrationsgesellschaft als Andere geltende Person“ (Mecheril et al., 2010, S. 17).