Panoptismus: Schule in Zeiten der Pandemie

 „Jeder ist in seinen Käfig eingesperrt, jeder an seinem Fenster, bei Nennung seines Namens antwortend und zeigend, worum man ihn fragt – das ist die große Parade der Lebenden und der Toten“ (Foucault, 1975/1994, S. 252). Michel Foucault beschreibt in „Überwachen und Strafen“ das vorgeschriebene Reglement gegen Ende des 17. Jahrhunderts, wenn in französischen Städten die Pest ausbricht. Es findet ein rigoroses Parzellieren des Raums statt, bevor der Syndikus der Stadt den Gesundheitszustand jedes einzelnen Bürgers auf die beschriebene Weise überprüft.

Als in Österreich wie anderswo im März 2020 von einem Tag auf den anderen die öffentlichen und privaten Einrichtungen ihren Betrieb einstellten, kamen die Lebenden nach wenigen Tagen ohne Nennung ihrer Namen freiwillig ans Fenster, um sich zu zeigen. Einige sangen, die meisten applaudierten. Der Applaus galt aber seltener den Musizierenden als den so genannten Systemerhalter*innen.

Als systemerhaltend und damit „systemrelevant“ gelten seither jene Tätigkeiten, auf die in der Pandemie nicht verzichtet werden kann. Dazu zählen bekanntlich nicht nur u.a. Ärzt*innen, Dienstnehmer*innen bei Versicherungen, Banken und Energiekonzernen, sondern  u.a. auch Pflegekräfte, Reinigungskräfte und Lebensmittelverkäufer*innen. Sie waren die Unabkömmlichen und mussten auch weiterarbeiten, während der Rest des Landes zunächst in Schockstarre verharrte. Von Anfang an war klar, dass viele der Unabkömmlichen selbst Kinder zuhause  großzogen, für die sie eigentlich unabkömmlich waren. Als die Schulen und Kindertagesstätten von einem Tag auf den anderen Tag geschlossen wurden, verloren sie auch ihre Kustodialfunktion (vgl. Fend 2006): Die Bildungseinrichtungen verwahrten untertags keine Kinder mehr, auch nicht mehr die Kinder der Systemerhalter*innen, die dennoch arbeiten gehen mussten.


Wer hat, dem wird gegeben

Zeitgleich wurden Mitte März 2020 an manchen Ecken der Bildungsforschung massenhaft Glückshormone ausgeschüttet, weil die Schule in ihrem Trägheitshabitus zum Paradigmenwechsel gezwungen wurde: Digitalisierung überall. Lernplattformen und Tools entstanden aus dem Nichts oder wurden aus der relativen Nichtigkeit ans Licht gezerrt. Es entwickelte sich vor unseren Augen – so wollte man uns überzeugen– eine neue Lernkultur des 21. Jahrhundert, der wir beim Wachsen nur  zuzusehen brauchten.

Die Schöne Neue Welt wurde erst brüchig, als nach ein paar Wochen bekannt wurde, dass es gemäß des Ungleichheitsdiskurs wieder mal hieß: Gleich und gleich gesellt sich gern, (vgl. Bohl & Harrant & Wacker, 2015, S. 169). Die Pandemie zeigte schnell, welche Effekte die sozialen Ungleichheiten haben: Das Matthäus-Prinzip („Wer hat, dem wird gegeben“) bewies Gültigkeit. Wer als Schüler*in daheim die nötigen Geräte und den Platz zur Verfügung hatte, und die Aufmerksamkeit der bildungsaffinen Mittelschichtseltern – je nach Alter und fortschreitender Pubertät – genoss bzw. ertragen konnte, konnte relativ gut mit der Situation umgehen. Schüler*innen aus mehrfach benachteiligten Haushalten, die zu Hause keine Unterstützung für die Schule hatten, keinen Arbeitsplatz für ihre Hausaufgaben und sich die deutsche Sprache nicht als Erstsprache in der Schulzeit aneigneten, fielen unangenehm auf. Sie nahmen laut ihrer Lehrer*innen am improvisierten Distanzunterricht nicht teil, waren nicht erreichbar. Während der Applaus für die Systemerhalter*innen noch ein paar Wochen anhielt, bevor er jäh verhallte, wurden ihre schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen erst gar nicht beklatscht, sondern zum Objekt des massenmedialen Diskurses, der sie zu Risiko- und Gefahrenfaktor für die Volksgesundheit machte.

Viele Bildungsexpert*innen erinnerten sich an bereits vorhandene Forschungsergebnisse der Bildungssoziologie, wonach sozio-ökonomisch benachteiligte Familien auch über weniger objektiviertes Kulturkapital (Bourdieu) verfügen, d.h. konkret: dass sozio-ökonomische benachteiligte Verhältnisse nicht korrelieren mit Computerhardware im Wert mehrerer hundert Euro und formidablen Breitbandinternet vom besten Provider. In der Praxis zeigte sich: Jugendliche Schüler*innen aus sozio-ökonomische benachteiligten Verhältnisse fummelten sich meist auf dem Küchentisch auf alten (ausgedienten) Handys ihrer Eltern durch das Distance Learning, eher nicht im eigenen Zimmer vor Rechnern mit großflächigen Bildschirmen.

Andere Bildungsexpert*innen waren emotional betroffen davon, wie diese Kinder und Jugendliche so mutwillig im Stich gelassen wurden. Sie waren geschockt von unbeholfenen Eltern, denn diese mussten doch eigentlich in die Pflicht genommen werden und sich um ihren Nachwuchs kümmern. Unter jenen waren aber viele, die gegangen waren, um das System zu erhalten, und sie waren am Abend müde.

Nicht alle Systemerhalter*innen und Arbeitnehmer*innen als Eltern traf es in weiterer Folge gleich hart und nicht alle im gleichen Ausmaß. Eine Studie im Auftrag der österreichischen Arbeiterkammer ergab, dass Systemerhalter*innen-Berufe, in denen Frauen überrepräsentiert sind, besonders schlecht bezahlt sind und dass „der Anteil an Beschäftigten mit Migrationshintergrund in den systemrelevanten Berufen unter den Reinigungskräften (56 Prozent) und im Handel (22 Prozent) besonders hoch [ist]. 13 Prozent der Arbeitskräfte in der Altenpflege- und Behindertenbetreuung haben eine ausländische Staatsbürgerschaft“ (AK Wien zit. n. OÖN, 2020). Es lässt ahnen, vor welchen Herausforderungen alleinerziehende Mütter (und Väter) von schulpflichtigen Kindern und Jugendliche stehen, die die Situation bewältigen müssen.


Panoptismus

Analog zu Foucaults „verpesteter Stadt“ bildet die Republik in der Pandemie „ein Disziplinarmodell des Ausnahmezustandes: vollkommen und gewaltsam, der todbringenden Krankheit setzte die Macht eine ständige Todesdrohung entgegen“ (Foucault, 1975/1994, S. 267). Diese Wirkung erhöhend, fungiert bei Foucault Benthams architektonisches Konzept zum Bau von Gefängnissen (Panopticon) und ähnlichen Anstalten als Symbol für das Ordnungsprinzip westlich-liberaler Gesellschaften. Es ist für ihn Ausdruck der Disziplinargesellschaft, zu der die Schule als Institution zählt.

In ihr droht das Leistungsprinzip durch Anrufung der Begabungsideologie permanent zu einem Disziplinargeschehen für Schüler*innen zu verkommen. Unter der Anwendung von „Strategien der Herablassung“ (Bourdieu 2001, S. 162) schafft es die Mittel- und Oberschicht, ihre kulturellen Praktiken in ihrer Mittelschichtsinstitution Schule zu normalisieren und sie anschließend zu normieren.

„An die Stelle der Male, die Standeszugehörigkeiten und Privilegien sichtbar machten, tritt mehr und mehr ein System von Normalitätsgraden, welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken. Einerseits zwingt die Normalisierungsmacht zur Homogenität, andererseits wirkt sie individualisierend, da sie Abstände misst, Niveaus bestimmt, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbar aufeinander abstimmt. Die Macht der Norm hat innerhalb des Systems der formellen Gleichheit so leichtes Spiel, da sie in die Homogenität, welche die Regel ist, als nützlichen Imperativ und als präzises Messergebnis die gesamte Abstufung der individuellen Unterschiede einbringen kann.“ (Foucault, 1975/1994, S. 237/238)

Die Normalität wirkt als Maßstab einer Nation, die sich in der Schule als Ausdruck ihrer naturalisierten Verhältnisse z.B. als homogen monolingual wahrnehmen möchte. Monolingualität wird zur Norm und wird normal in einer Welt, die die individuelle Leistung der Einzelnen in der Schule ahndet und dabei Niveaus bestimmt. Dementsprechend haben sich nach dem ersten Corona-Lockdown in Österreich Vertreter*innen des Bildungssystems auf Makro-Ebene – aus anscheinend aus pädagogischer Überzeugung?! – dazu entschieden, „Sozialdarwinismus als Schulkonzept“ (Hopmann, 2020) anzuleiten und angeordnet, dass es für Schüler*innen der umstrittenen Deutschförderklassen weiterhin eine Prüfung gibt, die über den Wechsel in die Regelklasse entscheidet. Die Selektionsfunktion der Schule hat anscheinend auch in einer Pandemie Vorrang vor der „Personalisierungsfunktion“. (vgl. Fend 2006)


Sommerschule als Sommermärchen

Im Mai 2020 wurde im Schnellverfahren beschlossen, dass diese Sprachstandsfestellung der Selektionsdiagnostik – kurz: MIKA-D (Messinstrument zur Kompetenzanalyse Deutsch) – auch im September möglich sein wird, wenn davor eine eigens eingerichtete zweiwöchige Gratis-„Summer-School“ im August 2020 von den betroffenen Schüler*innen besucht wird. Das geschah im Wohlwollen der betroffenen Schüler*innen, die sonst die Schulstufe hätten wiederholen müssen. Nicht ernsthaft diskutiert wurde, die Testung ganz auszusetzen, die Schüler*innen das Jahr positiv abschließen zu lassen und stattdessen die Ressourcen für Erstsprachunterricht und Zweitsprachunterricht (Stichwort: „Deutschförderung“) im laufenden Schuljahr aufzustocken.

Stefan Hopmann (Universität Wien) meinte zu der ad hoc aus dem Boden gestampften „Summer-School“, dass der österreichische Bildungsminister in dieser Frage „weiche Knie“ bekommen habe: „Da treffen sich die Schülerinnen und Schüler dann zwei Wochen mit Lehramtsstudierenden, die mehrheitlich keinerlei Ausbildung haben, um Deutsch als Zweitsprache zu vermitteln. Was sollen die da lernen?“ (Mayr & Riss, 2020). Einigen Vertreter*innen des Bildungssystems auf Makro-Ebene war es aber naturgemäß wichtig, dass Schüler*innen – meistens aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen mit Deutsch als Zweitsprache – insgesamt besser performen. Es ist in diesem Zusammenhang wirklich verblüffend (oder auch bezeichnend), dass nach – diesen gefühlt tausendundein Jahren – evidenzbasierter empirischer Bildungsforschung zur schulischen Leistungsvermessung in Österreich selbst der Bildungsminister diese Sommerschule – d.h.: zehn Tage Schule von sich einander meist unbekannten Schüler*innen mit meist nur eine*r Lehramtskandidatin – bei einer Pressekonferenz im Dezember 2020 noch als „ein ganz hervorragendes Instrument [charakterisierte], um die Lerndefizite auszugleichen“ (Gigler, 2020).

In dieses politisch prestigeträchtige Projekt „Summer-School“ wurde viel meinungsmachende Energie gesteckt, während verabsäumte wurde, sich auf die zweite Corona-Welle vorzubereiten – u.a. „technisch durch eine bessere Ausstattung von Schulen, Lehrkräften und Schülerschaft; organisatorisch durch eine Auffächerung des Schulalltags, die zeitlich versetzte Anfänge, Gruppenteilungen und flexible Unterrichtsgestaltung erlaubt; personell durch Einstellung des dafür notwendigen Betreuungspersonals.“ (Hopmann, 2020).

Die Pandemie hält an und es sind bis dato (Februar 2021) keine der oben – als womöglich sinnvoll – genannten Maßnahmen großflächig umgesetzt worden, aber die Testungen für Schüler*innen sind nach wie vor vorgesehen. Man könnte es mit Slavoj Žižek ideologischen Zynismus nennen. Es heißt nicht mehr „Sie wissen nicht, was sie tun“ sondern „Sie wissen es, aber sie tun es trotzdem“ (Žižek, 1994).


Dieser Artikel erschien im März 2021 in leicht abgeändeter Form in PoliTeknik.de, http://politeknik.de/p12337/


Literaturverzeichnis

Bohl, T., Harrant, M., & Wacker, A. (2015). Schulpädagogik und Schultheorie. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Bourdieu, P. (2001). Wie die Kultur zum Bauern kommt. Hamburg: VSA Verlag.

Fend, H. (2006). Neue Theorie der Schule. Wiesbaden: VS Verlag

Foucault, M. (1975/1994). Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main : Suhrkamp.

Gigler, C. (19. Dezember 2020). Förderkurse in Semester- und Sommerferien, kürzere Ferien (noch) kein Thema. Von Kleine Zeitung: https://www.kleinezeitung.at/international/corona/5913693/CoronaDefizite_Foerderkurse-in-Semester-und-Sommerferien-kuerzere, abgerufen 02.02.2021

Hopmann, S. (14. November 2020). Sozialdarwinismus als Schulkonzept. Von Der Standard: https://www.derstandard.at/story/2000121698930/sozialdarwinismus-als-schulkonzept, abgerufen 02.02.2021

Mayr, P., & Riss, K. (18. Mai 2020). Bildungsexperte Hopmann zu Schulrückkehr: “Natürlich bringt das nichts”. Von Der Standard: https://www.derstandard.at/story/2000117544049/bildungsexperte-hopmann-zu-schulrueckkehr-natuerlich-bringt-das-nichts, abgerufen 02.02.2021

OÖN. (29. Mai 2020). Oberösterreichische Nachrichten. Von 65 Prozent der systemrelevanten Arbeitskräfte sind Frauen: https://www.nachrichten.at/wirtschaft/65-prozent-der-systemrelevanten-arbeitskraefte-sind-frauen;art15,3262332, abgerufen 02.02.2021

Žižek, S. (1994). Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als politischer Faktor. Wien: Passagen.