Seit Kabinett Kurz I haben wir in Österreich MIKA-D (Messinstrument zur Kompetenzanalyse – Deutsch), mit dem ausschließlich Kinder mit anderer Erstsprache als Deutsch im Zuge der Schuleinschreibung hinsichtlich ihrer Schulsprachreife getestet werden, weil wir in einem Land leben, in dem - anscheinend wissenschaftlich erwiesen - kein einziges sechsjähriges Kind mit Erstsprache Deutsch lebt, das bei der Einschulung nicht die Verbendstellung im Nebensatz beherrscht. Daran stößt man sich nicht, denn Kinder mit anderer Erstsprache als Deutsch sind noch heute nicht die Norm. In Wien nicht und nicht anderswo in Österreich.
Da aber Österreich über ein höchst segregativ wirkendes und früh selektionierendes Schulsystem verfügt, haben wir mit der individuelle Kompetenzmessung PLUS (iKMplus) ein Instrument zur Erfassung fachbezogener und zur Einschätzung überfachlicher Kompetenzen von Schüler*innen am Ende der Primarstufe und am Ende der Sekundarstufe II entwickelt. Lehrpersonen erhalten dabei externe, objektive Informationen zum Lernstand von Einzelschüler*innen und zum Leistungsstand der Klasse insgesamt als weitere Grundlage für Unterrichts- und Förderplanung. Schulleitungen erfreuen sich an jährlich erhaltenen raschen Rückmeldungen zu Ergebnissen der Klassen und des Standorts und zusätzlich im Dreijahresrhythmus zusammengefasste Ergebnisberichte über drei Erhebungsjahre als Datengrundlage für strategische Steuerung, pädagogisches Konzept und Qualitätsmanagement. Bildungsdirektionen erhalten zusammengefasste Daten als Grundlage für regionale Bildungsplanung und standortbezogenes Qualitätsmanagement und das BMBWF schließlich erhält dreijährliche Systemberichte als Grundlage für Bildungsentwicklung, Bildungsmonitoring und Bildungscontrolling (IQS, 2024). Kurzum Bildungsdirektionen und das BMBWF erhalten viele Daten, die sich in bunte Balkendiagramme gießen lassen, während die Schulleitungen mit ihren Lehrkräften kosmetische Schulentwicklung an den eigenen Standorten betreiben. Am österreichischen Schulsystem ändert das grundlegend gar nichts, soll es scheinbar auch nicht.
Es wird gemessen, was man eigentlich schon weiß: Österreich ist ganz kirr auf die moralische Ideologie des Verdienstes, bei der die ungleiche Verteilung von Privilegien durch Unterschiede an Talent und harter Arbeit gerechtfertigt wird (Sandel, 2020; Illouz, 2024, S.167). Wir sind auf dem besten Weg zu US-amerikanischen Verhältnissen in unserem Erziehungssystem: „Durch die Standardisierung der Benotung hat es das Bildungssystem den Angehörigen der oberen Mittelschicht ermöglicht, ihre Kinder vergleichsweise gut auf diese Standards einzustellen, und damit deren im Vergleich zu Kindern aus weniger privilegierten Familien besseren Leistungen den Anstrich eines meritokratisch objektiven Ergebnisses verliehen“ (Illouz, 2024, S.90) Es findet ein Klassenkampf statt, aber nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten. Es wird so viel Gewicht auf die individuelle Begabung und die intrinsische Motivation der Schüler*innen gelegt, dass nicht wahrgenommen wird, dass bei derzeitiger Ausgestaltung des Bildungssystems stets nur Schüler*innen aus einkommensstarken Schichten, bei denen sich die Erziehungsberechtigten oder die von ihnen finanzierten Nachhilfelehrer*innen um die Eigenen kümmern, für die ersehnten Schularten in der Sekundarstufe selektiert werden. Ungleichheiten werden reproduziert, strukturelle Benachteiligung verstärkt. Schule als Institution, die auf langfristige Verhaltensmuster ihrer Abgänger*innen baut, die nach etwas streben sollen, was sie einmal werden wollen, entlassen junge Menschen bar jeder Hoffnung. Bereits ab dem 10. Lebensjahr, wenn sie an weitere Schularten durchgereicht werden. Die Bildungspflicht in Österreich endet dann mit dem 18. Lebensjahr. Jahr für Jahr werden Schüler*innen, die die gewünschten Kompetenzen nicht haben, in Bildungsstätten getestet und getestet. Was strukturell getan werden muss, damit sich diese junge Menschen die Grundkompetenzen für ihr Leben aneignen, interessiert staatlich nur wenige. Darüber wird nicht gerne gesprochen: „Es gibt viele Gründe, warum Menschen die Auseinandersetzung mit beunruhigenden und unbequemen Informationen meiden. Sie scheinen aber von dem Bedürfnis abzuhängen, ein moralisch kohärentes Selbst zu bewahren und negative Emotionen zu vermeiden, vor allem Hilflosigkeit, Angst, Schuld, Scham und Furcht. Diese Emotionen sind für das Selbst potenziell zu überwältigend, um ein Gefühl der Integrität aufrechtzuerhalten.“ (S.367)
Täglich gehen von unseren Schulen Kinder und Jugendliche ab, die glauben, dass es ihnen an Können und Talent fehlt, um soziale Mobilität zu schaffen. Es bleiben enttäuschte Schüler*innen und als wäre das nicht trist genug, haben wir auch noch die von ihnen enttäuschten Lehrer*innen in der enttäuschten Institution Schule, von der alle im öffentlichen Diskurs insgesamt enttäuscht sind. So viel Enttäuschung in einer Welt die auf Hoffnung baut; die für Schüler*innen den Eindruck einer prinzipiellen Offenheit erwecken will. Dieser Umstand, der allen Beteiligten sotto voce bekannt ist, führt aber in Österreich leider bloß zu hitzig geführten Debatten im rauschenden Blätterwald der Tageszeitungen. Es nährt kurzfristig das ohnehin schnell abflauende Feuer gesellschaftlicher Empörung über die österreichische Schule. Es ist nie die Basis für überparteilich langfristige vereinbarte Maßnahmen zur Reform des österreichischen Bildungswesens – Asche auf das Haupt führender Politiker*innen aller Parteicouleurs in Österreich, die aktiv oder durch Inaktivität Reformen wie kostenlose ganztägige Beschulung in Gesamtschulen (Primarstufe, Sekundarstufe I) ohne versteckte Wohnbezirkssegregation verhindern! Ideal wäre es, wenn gänzlich unabhängig von Nationalratswahlergebnissen unter der Führung des Bundespräsidenten das Bildungsministerium, die Bildungsdirektionen, die Gewerkschaften, tertiäre Bildungsstätten der Lehrer*innenbildung und fachkundige Expert*innen auf Augenhöhe gemeinsam mit einem Ziel vor Augen sukzessive und immer wieder (zwischen-)evaluierend über Jahrzehnte hinweg an einer Neustrukturierung des österreichischen Bildungssystems arbeiten würden, wie es beispielsweise in skandinavischen Ländern (wie z.B. Finnland) lange Zeit üblich war (Rautiainen und Kostiainen, 2018). Es ist wie es ist. Jedes Land hat die Schule, die es verdient. Wir bleiben zurück mit drei Hauptfragen aus Kants Philosophie: „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ mögen sich in diesem Zusammenhang intensiv die österreichischen Politiker*innen bei ihren Koalitionsverhandlungen stellen. Meinetwegen auch mithilfe von Balkendiagrammen. Uns allen gemeinsam bleibt die dritte Frage: „Was darf ich hoffen?“
Literatur
Berger, P. und Luckmann, T. (1966/1994). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Fischer
BMI (2024). Nachweis von Deutschkenntnissen („Deutsch vor Zuzug“ und Integrationsvereinbarung), https://www.bmi.gv.at/312/06/start.aspx (26.11.2024)
Der Standard (2024). Neos fordern in internem Verhandlungspapier "Regierungsmonitor", Deutsch vor Zuzug und Föderalismusreform. https://www.derstandard.at/story/3000000245616/neos-fordern-in-internem-verhandlungspapier-regierungsmonitor-deutsch-vor-zuzug-und-foederalismusreform, (26.11.2024)
Hawlik, R. (2024). Sind Initiativen zur Ausrichtung des Muttersprachlichen Unterrichts nach dem Konzept „Nation“ Ausdruck eines legitimen Kampfs um Anerkennung? In Sabine Guldenschuh et al (Hrsg.). Migrationspädagogische Perspektiven auf den erst-/herkunfts-/mutter-sprachlichen Unterricht. Wiesbaden: Springer Verlag, S.169-S.182
Illouz, E. (2024). Explosive Moderne. Berlin: Suhrkamp
IQS (2024). Weiterentwicklung der nationalen Kompetenzmessungen – von der IKM zur iKMPLUS
Lothar, E. (1960/2021). Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen. München: Hanser
Rautiainen, M und Kostiainen, E. (2018). School in Finland. In Marius Harring et al. Handbuch Schulpädagogik. Münster: Waxmann. S.236-S.243
Sandel, M. (2020). Vom Ende des Gemeinwohls. Frankfurt am Main: Fischer
Statistik Austria (2024). Statistisches Jahrbuch: Migration & Integration. Wien: Staatsverlag
Terkessidis, M. (2017). Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft. In Koch, Kolja, i.A. des IDA-NRW (Hg.) (2017): kontext.flucht. Perspektiven für eine rassismuskritische Jugendarbeit mit jungen geflüchteten Menschen, https://www.ida-nrw.de/fileadmin/user_upload/brosch_flyer/IDA-NRW_Reader_kontext.flucht.pdf, S.8-S.10 (26.11.2024)