Bildung wird zur Gefahr: Soziale Komplexität und komplexe Herrschaftsverhältnisse

Superdiversität ist ein Konzept das soziale Komplexität in Gesellschaften beschreiben möchte. Wien zählt im Kontext der europäischen Urban Diversities sicher zu den superdiversen Städten wie jene jüngst zu einer wissenschaftlich Messung herangenommenen Städte Amsterdam, Frankfurt, Rom und Mailand (vgl. Pisarevskaya, Scholten, Kaşlı, 2021). Wien hat wie die genannten Städte einen durchschnittlichen Migrant*innenanteil von 16 Prozent bei einer Population von durchschnittlich 1,3 Millionen: Es sind mehr als 121 Nationalitäten vertreten, das BIP ist überdurchschnittlich hoch und die Arbeitslosigkeit vergleichsmäßig niedrig.

Das 'Super' bei Super-Diversität steht weder für ein Mehr an Diversität noch für eine höhere Konzentration oder gar für ein Qualitätsurteil über sie. Es steht für das Ablösen (to superseed) von als überholt wahrgenommenen Beschreibungen einer früher als multikulturell bezeichneten Welt. Vormals wurden Phänomene vorwiegend mittels Klassifizierungsrubriken traditioneller Sozialtheorie (wie 'Soziale Klasse' oder 'Gender' oder race) eindimensional erschlossen, aber mit Vertovec als Erfinder des Konzepts ändert sich das: „I always intended super-diversity to be first and foremost a descriptive concept, constructed for a special purpose in order to tie together a set of observed, co-occurring phenomena that supersede phenomena that were previously evident (hence the 'super-' prefix)“, schreibt Vertovec und führt weiter aus: „For this purpose,  super-diversity was coined to draw attention to complex – and arguably  new – patterns in migration phenomena over the past three decades or so.“ (2017, S. 1575). Aus Kritik an dem 1990er-Begriff Multikulturalismus entstanden, tritt Superdiversität als anti-essenzialisistisches Konzept an, diese alten eher als eindimensional interpretierten Vorstellungen über das soziale Miteinander abzulösen. Deskriptiv werden sehr unterschiedliche und gängige Klassifizierungsrubriken wie z.B. race und/oder Ethnie, Gender, Religion, Sprache, Sexualität, Behinderung und Alter angewandt, um Selbstbeschreibungen (Ingroup-Kriterien) und Fremdzuschreibungen (Outgroup-Kriterien) für die Darstellung von bestimmten Menschengruppen im Wandel der Zeit zu beschreiben (Vertovec, 2025, S.223).  

Das öffentliche und (mit der Institution Schule) das staatliche Interesse und Verständnis für Kategorien sozialer Differenz hinkt der tatsächlich stattfindenden Diversifizierung und Vervielfältigung ihrer sozialer Kategorien in der Gesellschaft meilenweit hinterher. Wie reagiert Schule heute auf komplexe kulturelle und fluide racial Herkunft, religiöse Diversität und das polylanguaging ihrer Schüler*innen? Ist das machbar? „Der starke Zuwachs an derart vielfältigen Menschen und die damit einhergehende Aufhebung, Aushöhlung und Vermischung von Kategorien lassen ein fluideres Bild neuer demografischer Realitäten erkennen, die konventionelles Kategorisieren in Gesellschaften weltweit hinterfragen" (Vertovec, 2025, S.234). Zumal man sich schon mit dem konventionellen Kategorisieren reichlich abmüht in Österreich. So mag zwar im Lehrplan und in Schulbüchern die Rede sein von der Lebenswelt mehrsprachiger Schüler*innen und der Interkulturellen Bildung im allgemeinen, aber die Normativitätsvorstellung, die als Inter (also: zwischen) den so genannten Kulturen steht, verweist unmissverständlich auf die Vorstellung einer Majoritätskultur, die auf der einen (richtigen?) Seite steht. Die ist in Österreich scheinbar Mittelschicht, bildungsaffin, nicht-behindert und was Sprache angeht, fließend Deutsch sprechend. Sogar insgesamt so gut Deutsch sprechend, dass restlos alle Sechsjährigen bei der Einschulung produktiv die Verbendstellung im Nebensatz beherrschen, sonst müss(t)en sie MIKA-D bei der Schuleinschreibung bestehen. Die Anderen und damit sind dann - wie scheint -  eigentlich die kulturell nicht so Fitten gemeint, stehen mit ihrer Kultur auf der anderen Seite vom Inter. Die sind bei Interkulturalität übrigens in der Bringschuld oder hat man hierzulande je von Kirtagen gehört, an denen die so genannten Einheimischen sich selbst exotisierten und in Erklärungsnotstand kamen für ihre Musik, ihre kulinarischen Köstlichkeiten und ihren Brauchtum? Das soziale Feld ist „ein Umfeld von Machtverhältnissen, Beziehungen, Bedeutungen und Erwartungen“ (Vortevec, 2025, S.254). Der Staat hat der Schule die angemessenen Bedingungen zu ermöglichen, dass Schule ein geschützter Raum ist, in dem Kinder und Jugendliche als Schüler*innen sich ausprobieren, sich selbst in Erfahrung bringen und ihre multiplen Zugehörigkeiten in dem gegebenen gesellschaftlichen Gefüge des Schulstandorts erleben. Schule ist nicht nur das Beherrschen von Handlungskompetenz in Bezug auf schulisch relevante Fachgegenstände, sondern auch die Fähigkeit und Fertigkeit in der Gesellschaft zu sein, für sie da zu sein. Sie wertzuschätzen und daran teilhaben zu wollen, weil sie Teil von einem selbst ist.

Superdiversität ist als Konzept vollkommen wertfrei. Rein deskriptiv beobachtet es sozialen Wandel im urbanen Raum, leistet aber auch keinen theoretischen Beitrag dazu (Ndhlovu, 2016, S.35). Super-Diversität beruft sich mit dem zweiten Teil seines Kompositums auf den Grundgedanken von Diversity, bei dem Vielfalt - hier weniger wertfrei - als etwas Positives, Wertvolles und Bereicherndes wahrgenommen wird (Weis, 2017). Insofern ist es als Konzept doch eher ident mit gewissen Vorstellungen über Interkulturalismus/Mulitkulturalismus, die Heterogenität nicht als Normalfall verstehen, sondern eher mit ihrer Förderung und Wertschätzung beschäftigt sind. So möchte sich Superdiversität selbst als eine Möglichkeit sehen, „Intersektionalität im Hinblick auf neue Migrationsmuster zu überdenken“ (Vertovec, 2025, S.23) und schaut aber dabei penibel diagnostisch auf rein migrantische Verhältnisse aus vermeintlich gesicherter Position: In seinem grundlegenden Essay aus 2007 werden bei Vertovec einzelne britische Städte nach Staatsangehörigkeit nur nach dem Kriterium „nicht-UK“ analysiert und wenn andernorts die internationale Neuzuwanderung nach Staatsangehörigkeiten zwischen 1994 und 2003 erörtert wird, ist das längst vergangene Empire greifbar nahe, denn unterschieden wird von ihm zwischen britisch, neuer Commonwealth, alter Commonwealth, Europäische Union und anderes Ausland (Vertovec, 2007/2023). Wenn Vortevec über die Herausforderungen von Urban Diversity schreibt, erörtert er wie komplex das Gefüge in Wohnbezirken Londons ist und urteilt über das sorglose Vorgehen der Stadtverwaltung: „One of the biggest problems is a belief in 'one-size-fits-all' models when dealing with very different kinds and categories of migrants, for instance“ (Vortevec, 2023, S.208). Solche Ausführungen erwecken den Eindruck, als handle es sich bei Migrant*innen um eine Art Klientel. Es hat den Anschein als ging es über Migrant*innen, nicht um ein Hinterfragen legitimer und illegitimer Berechtigungen und Praktiken in einer Gemeinschaft, die sich Zivilgesellschaft nennt. 

Wie jedes Konzept, das sich auf Diversität beruft, muss sich Superdiversität  auch die Kritik gefallen lassen, dass es bei aller Betonung von (schillernder) Diversität „eine Illusion von Gleichheit in einer höchst asymmetrischen Welt“ schafft (Makoni, 2012, S. 193). Es scheint ähnlich wie bei Annedore Prengel (1995) das Vielfaltsparadigma „egalitärer Differenz“ zu gelten, ohne dass (wie bei Migrationspädagogik) „Selbst- und Machtreflexion als leitendes Prinzip“ geltend gemacht werden (Weis, 2017). Aber gibt es ein egalitäres Nebeneinander oder tritt hier nicht eine gesellschaftliche Totalität zutage, die Kräfte des Widerstands erzeugt? 

„Der Widerstand ist Teil der Ordnung, entsprungen aus der Unterdrückung“, schreibt Eva Borst, "So ist der Proletarier Produkt des Kapitals, die Migrantin Ergebnis des Nationalstaates und der Widerstand Resultat der Macht, nicht etwa ihr Gegenteil“ (Borst, 2007, S.187). Migrant*innen als Ergebnis des Nationalstaates deuten an, dass es weniger um Macht denn um Herrschaft geht. The Empire Strikes back: Neu gegründete Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts bauen ihre Schulsysteme rund um normative Vorstellungen, bei denen einer Nation eine Sprache zuteil wird und ihre Kinder und Jugendliche als Schüler*innen diesem Umstand nachzukommen haben (Gogolin, 1994). Wer das als ausgewiesen mehrsprachige*r Schüler*in nicht erfüllte, bekam als Abtrünnige*r der Norm nach PISA 2000 in Österreich einen Migrationshintergrund verliehen, der synonym für schwache Kompetenzen bei schulischer Anforderungen steht. Diversity Pädagogik aber auch Migrationspädagogik sind dem Paradoxon ausgesetzt, dass die Bemühungen für die Anerkennung mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher und ihrer Lebenswelten sie als (öffentlich kritisch beäugte) Schüler*innen mit Migrationshintergrund gleichsam hervorbringt. Handlungsmacht und -vermögen sind an Anerkennungsverhältnisse geknüpft. Anerkennung „bestätigt den inferioren Status der Anderen“ (Mecheril & Castro Varela, 2010, S.101). Die Anerkennung zieht skeptische Blicke des herrschenden Staats auf sich: Migration ist vielleicht Teil der Ordnung, aber wer herrscht, ist klar. Und Widerstand ist Resultat der Macht. Widerstand von Wissenschaftler*innen gegen Deutschförderklassen, schulische Segregation, überholte Vorstellungen von Volksgruppensprachen etc. mag zwar ein Resultat der Macht sein, aber irret nicht: Wer herrscht, hat das Sagen - denn „anstelle des Spiels treten antagonistische Reaktionen stabiler Mechanismen (und) für eine Beziehung der Gegnerschaft (...) stellt die Fixierung eines Machtverhältnisses einen Zielpunkt, seine Vollendung und Aufhebung zugleich dar“ (Foucault, 1994, S.243 f.).

Herrschaft ist im Schulwesen natürlich wirklich niemandem fremd. Sie findet täglich in der Schulklasse statt. Die Lehrkraft nützt ihre pädagogische Autorität, um die Kinder zu erziehen und zu unterrichten. Die Autorität ist nicht ihr Merkmal. Es ist die Eigenschaft der Beziehung zu ihren Schüler*innen in diesem Anerkennungsverhältnis (Reichenbach, 2011). Lehrer*innen übernehmen (wie Erziehungsberechtigte) in dieser Beziehung ein widersprüchliches Mandat: „Vom Kind aus betrachtet sind sie Anwältinnen und Anwälte der Welt, von 'der Welt aus' betrachtet Anwältinnen bzw. Anwälte des Kindes“ (ebd., S.206). „Schule ist nicht für die Gesellschaft da“ , schreibt Koch, „sondern konstitutiv für die Gesellschaft (...) Die Gesellschaft leistet sich selber einen Dienst, wenn sie für die Schule sorgt. Damit hängt es zusammen, dass die Schüler für die Schule da sind, dass die Schule den Bestand des Wissens garantiert und jeder Einzelne nicht nur Benutzer des Wissens, sondern auch dessen 'Gefäß' ist“ (Koch, 2002, S.20). 


Lehrer*innen erziehen und unterrichten in Wien zweifellos in superdiversen Verhältnissen. Sie beherrschen Schüler*innen, um sie zu emanzipieren. Sie beherrschen sie durch Erziehung und Unterricht mit dem Ziel, aus ihnen junge Menschen zu machen, die sich grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen, um später im Leben nicht von X-Beliebigen unrechtens überrumpelt und beherrscht zu werden. Gleichzeitig erkennen Lehrer*innen, dass sie selbst in einem Feld beruflich agieren, in dem sie als Amtspersonen durch staatliche Maßnahmen und Zielvorstellungen in diskriminierende und rassistische Praxen und Diskurse (Weis, 2017) verstrickt sind, weil sie selbst beherrscht werden. Daran schließt für Lehrer*innen (und Schüler*innen) die Frage an, wie es möglich ist, „nicht so, [...] zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert zu werden?“ (Foucault 1978/1990, S. 7). Es geht darum in superdiversen Verhältnissen, Rassismus nicht zu reproduzieren und Spielräume für den Abbau von Rassismus auszuloten. Es geht darum, Kinder und Jugendlich kunstvoll zu begleiten und anzuführen, ihnen etwas beizubringen, sie zu erziehen. Sie mündig zu machen für das Leben. So gut das geht und so gut es möglich wird, aber nicht um des Staates willen, der ganze eigene Ziele für die Seinigen verfolgt. „Die Herrschaft unterliegt dem Zwang, Bildung ununterbrochen vermehren zu müssen, um sich selbst zu erhalten, sie muss die Grenzen ihres eigenen Herrschaftswissen durchbrechen, Rationalität erratisch ausstreuen“, schreibt Heinz-Joachim Heydorn und ganz für die Lehrer*innen als Anwält*innen der Schüler*innen hält er dem herrschenden Staat mit spitzer Feder entgegen - „Bildung wird zur Gefahr, weil sie sich der Deckungsgleichheit entzieht, der Gleichheit mit dem Verwertungsprozess“ (Heydorn, 1995, S.311 f.). 


Literatur

Borst, E. (2007). Anerkennung der Anderen und das Problem des Unterschieds: Perspektiven einer kritischen Theorie der Bildung. Baltmannsweiler: Hohengehren

Castro Varela, M.d.M. & Mecheril, P. (2010) Anerkennung als erziehungswissenschaftliche Referenz? In: A. Schäfer & C. Thompson. Anerkennung (S.89-118) Paderborn: Schöningh.

Foucault, Michel (1994). Warum ich Macht untersuche: Die Frage des Subjekts. In: Dreyfus, Hubert Lederer /Rabinow, Paul (Hrsg.): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim: Beltz, S. 243–250.

Foucault, Michel (1978/1990): Was ist Kritik? Berlin: Merve.

Gogolin, I (1994). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann

Heydorn, H.-J. (1995). Werke in 9 Bänden, Band 3. Vaduz: Topos

Koch, L. (2002). Schule ist zum Lernen da. In: M. Heitger (Hrsg.). Wozu Schule? Innsbruck: Tyrolia, S.9-S.21

Makoni, S. (2012). A critique of language, languaging and supervernacular. Muitas Vozes, Ponta Grossa, 1(2), 189-199 [Übersetzung: deepl, rh]

Ndhlovu, F. (2016). A decolonial critique of diaspora identity theories and the notion of superdiversity. Diaspora Studies, 9(1), 28-40, https://www.researchgate.net/publication/282160144_A_decolonial_critique_of_diaspora_identity_theories_and_the_notion_of_superdiversity (30.03.2025)

Pisarevskaya, A., P. Scholten and Z. Kaşlı (2021). “Classifying the diversity of urban diversities: An inductive analysis of European cities,” Journal of International Migration and  Integration https://doi.org/10.1007/s12134-021-0081-z (30.03.2025)

Prengel, A. (1995). Pädagogik der Vielfalt. Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Reichenbach, R. (2011). Pädagogische Autorität. Stuttgart: Kohlhammer.

Vertovec, S. (2007/2023).  Superdiversity and its implications. In: Vertovec, S. (2023). Superdiversity: Migration and Social Complexity. London: Routledge, S.18-S.47

Vertovec, S. (2017). “Mooring, migration milieus and complex explanation,” Ethnic and  Racial Studies 40(9): 1574–81 https://doi.org/10.1080/01419870.2017.1308534 (30.03.2025)

Vertovec, S. (2023). Superdiversity: Migration and Social Complexity. London: Routledge

Vertovec, S. (2025). Superdiversität. Berlin: Suhrkamp

Weis, M. (2017). Rassismuskritische Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern, https://d-nb.info/1149510293/34 (30.03.2025)