Einer „Nicht-Wir“-Gruppe, die sich seit dem sogenannten Arabischen Frühling gebildet hat, schenkt Fukuyama in Europa besondere Aufmerksamkeit: „Das Identitätsproblem ist besonders akut für junge Muslime der zweiten Generation, die in westeuropäischen Einwandererkreisen aufwachsen. Sie leben in vorwiegend weltlichen Gesellschaften mit christlichen Wurzeln, also in einer Umgebung, in der ihre religiösen Werte und Bräuche nicht öffentlich unterstützt werden. Ihre Eltern stammen häufig aus geschlossenen Dorfgemeinschaften, in denen lokale Formen des Islam, etwa die sufische Heiligenverehrung, praktiziert werden. Wie vielen Kindern von Immigranten liegt ihnen daran, sich von der altmodischen Lebensweise ihrer Familien zu distanzieren. Aber es fällt ihnen schwer, sich ihrer neuen europäischen Umgebung anzupassen.“ (Fukuyama, 2019, Pos. 1126)
„Nichtmuttersprachler“ findet Fukuyama in „Einwandererkreisen“ urbaner Räume, die, wenn sie ein gewisses Ausmaß erreichen, größtenteils autark werden und auf Verbindungen zu externen Gruppen verzichten können: „Es ist auch möglich, dass sie die öffentlichen Dienste und die Aufnahmefähigkeit von Schulen und anderen staatlichen Einrichtungen überstrapazieren.“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2807).

Wiesinger betreibt äußerst deutlich ‚Othering‘ und trennt dabei scharf zwischen „Wir“ und „Nicht-Wir“, denn „[…] eigentlich wollen diese Kinder ja zu uns gehören und die Freiheiten unseres westlichen Lebensstils genießen. Aber sie können nicht. Es gibt eine Kraft, die sie zurückhält, die stärker ist als alles andere: ihr muslimischer Glaube. Er kontrolliert und lenkt sie […]“ (Wiesinger, 2018, Pos. 119).
Ausgehend von Wiesingers Vorstellung einer Mehrheitsgesellschaft mit einem von ihr durchdeklinierten Kulturbegriff konstatiert sie: „Was den betroffenen Kindern und Jugendlichen am meisten schadet, sind falsche Toleranz und Stillschweigetaktik gegenüber dem radikal-konservativen Islam“ (Wiesinger, 2018, Pos. 202). Wiesingers Vorstellung von „gerechter“ Kultur, die sich nicht zu rechtfertigen hat, formuliert Fukuyama wie folgt: „Die liberale Demokratie hat ihre eigene Kultur, und diese muss höher eingestuft werden als Kulturen, die demokratische Werte ablehnen.“ (Fukuyama, 2019, Pos. 2674).
Die im Buch beschriebenen Einstellungen und Haltungen, aber auch die Vorgehensweisen im (schulischen) Umgang mit diesen Schülern aus vermeintlich benachteiligter sozio-ökonomischer Schicht geben zu denken. Verunglimpfenden Aussagen dominieren den Text: „Diese Ohnmacht provoziert unter Lehrern manchmal Aussagen, die von purer Verzweiflung geprägt sind. ‚Man müsste den Eltern die Kinder wegnehmen! Ich würde denen am liebsten die Kinderbeihilfe streichen und die Mindestsicherung kürzen! Wozu kriegen sie die Kinderbeihilfe, wenn sie sie nicht in ihre Kinder investieren, sondern stattdessen in ihre Reise nach Mekka und in ihren depperten BMW?!’ Das ist alles nicht so gemeint, es sind Sätze aus der Emotion heraus. Es ist unsere Art und Weise, mit Frustration und Desillusionierung umzugehen. Manchmal hilft für den Moment nur mehr Sarkasmus und Zynismus“ (Wiesinger, 2018, Pos. 884). Das Lehrerzimmer fungiert hier als Echoraum für Frust- und Kränkungserfahrungen mit als ‚anders‘ markierten Schüler/innen und ihren Eltern.
Das Forschungsvorhaben bestand zunächst darin herauszufinden, ob künftige Primarstufenlehrer/innen die Situation strukturell und kulturell diskriminierter mehrsprachiger Schüler/innen (und ihrer Eltern) aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen im österreichischen Schulsystem wahrnehmen und welche Überzeugungen (Einstellungen und Haltungen als ‚beliefs‘) sie vertreten. Es wird in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass strukturelle Ungleichheit und Machtunterschiede, die in der Institution Schule durch Segregation reproduziert und verfestigt werden, u. a. durch die Kulturalisierung von Konflikten – als Beispiele wurden hierfür eine politische Theorie von Fukuyama sowie der Erfahrungsbericht von Wiesinger angeführt - aus dem Fokus geraten. Durch die simple Reduktion des Erklärungsmusters wird übersehen, dass die wesentliche Ursache von Konflikten in der Migrationsgesellschaft nicht in kulturellen Differenzen und mangelndem Verstehen zwischen sogenannten „Kulturen“ zu suchen sind, sondern vielmehr bei sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung und Praktiken der Ungleichbehandlung zu finden sind, die als Ausdruck struktureller Gewalt interpretiert werden können: „Der Zugehörigkeitsstatus bestimmt, wer als handlungsfähiges Subjekt an wirkmächtigen gesellschaftlichen Positionen verortet wird, und wer sich sprachlos und handlungsunfähig in marginalen Handlungsspielräumen erfährt“ (Thomas-Olalde & Velho, 2011, S. 27).
Die Forschungsfrage der Erhebung lautete: Welche Überzeugungen (Einstellungen und Haltungen als ‚beliefs‘) haben Studierende des Lehramts Primarstufe angesichts struktureller Ungleichheit und Machtunterschieden, die in der Institution Schule reproduziert und verfestigt werden? Dabei wurde von der Hypothese ausgegangen, dass eine höhere Semesterzahl mit einer erhöhten Einsicht auf die Situation strukturell und kulturell diskriminierter mehrsprachiger Schüler/innen (und ihrer Eltern) aus sozio-ökonomisch benachteiligten Verhältnissen im österreichischen Schulsystem einhergeht. Dies soll sich in den vertretenen Überzeugungen (Einstellungen und Haltungen als ‚beliefs‘) widerspiegeln.
Problematische und zugleich problematisierende Items wurden gewählt, weil es als nicht zielführend erachtet wurde, ausschließlich leicht abgewandelte Kinderrechte, wie z. B. „Kein/e Schüler/in darf – egal aus welchen Gründen (Hautfarbe, Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache, Geschlecht, Religion, Behinderung, Vermögen der Eltern etc.) – benachteiligt werden“ mittels Likertskala zu erfassen. Als Kontroll-Item wurde dies von 95% als „Trifft zu“ gewertet; ein Item aber wie „Interkulturelle Kompetenz: Da haben nicht wir als Mehrheitsgesellschaft, sondern Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund einiges aufzuholen.“ unterstellt hingegen den Befragten, dass sie alle zur „Mehrheitsgesellschaft“ gehören und erwägt nicht einmal, ob nun erwachsen gewordene „Kinder mit Migrationshintergrund“ unter ihnen sind. So ist auch zu erkennen, dass ein Item wie „Es besteht das Recht auf kulturelle Entfaltung, aber nur in den Maßen, in denen es für die Integration sinnvoll ist“ bewusst nicht legitime Einschränkungen vornimmt, denn entweder es besteht das „Recht auf kulturelle Entfaltung“ oder es besteht nicht. Da gibt es kein Wenn und Aber, es handelt sich hier um „elementare Freiheiten“ (vgl. Taylor, 2009, S. 45).
Diesem Erklärungsmuster „Kultur“ entspricht der Anspruch der Majoritätsgesellschaft, die klassische Gretchenfrage zu stellen: „Wie hältst du es mit der Religion?“ – Im pädagogischen Kontext stellt eine bestimmte Erwartungshaltung die Differenz her: An muslimische Schüler/innen bestehen andere Erwartungshaltungen als an nicht-muslimische Schüler/innen. Problematisch wird diese Zuweisung, wenn sie religiös „Anderen“ systematisch gesellschaftlich niedrigere Positionen zuordnet. Schüler/innen lernen unter diesen Bedingungen erst, „[…] zu MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen zu werden, wobei […] dieser Lernprozess auch einer ist, in dem Kinder in das Schema von Höher- und Minderwertigkeit eingeführt werden […]“ (Mecheril & Lingen-Ali, 2017, S. 23).
Ein ähnliches Bild zeichnet folgende Überzeugung, die die Deutungshoheit bei kulturellen Differenzen aufgrund „mangelnden Verstehens“ zwischen den Kulturen eher beim „Nicht-Wir“ verortet und das souveräne „Wir“ behauptet: „Da viele Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund die Integration ihrer Kinder behindern, ist es wichtig, dass diese Eltern ‚Wertekurse‘ besuchen“. Gleichermaßen wurde sowohl im ersten als auch im zweiten Studienabschnitt diese Einstellung in beiden Gruppen mit „Trifft eher zu“ zu 40 % beurteilt. Während „Trifft eher nicht zu“ von Studierenden im ersten Studienabschnitt zu 30% gewählt wurde, ist das für Studierende im zweiten Studienabschnitt bei 26 % der Fall.
Thematisch findet das folgende Item Anschluss an seinen Vorgänger, bei der eine bestimmte Erwartungshaltung die Differenz herstellt: „Schule bedeutet für Kinder mit Migrationshintergrund Integration: Es gelten Normen und Werte der christlich geprägten Kultur unseres Landes.“ (Item 8). Hier nimmt die Mehrheitsgruppe, die dieses Item mit „Trifft zu“ und „Trifft eher zu“ einstuft, ab: von 56 % im ersten Studienabschnitt auf 50 % im zweiten Studienabschnitt. Als Abschluss dieses Bereichs gilt das Item 13, das sich einem Vorwurf der oftmals auftretenden Fehlinterpretation eines österreichischen Unterrichtsprinzips widmet, bei dem sowohl im Ansatz der Hilfe und Unterstützung wie auch „im Ansatz der Bereicherung Dominanzverhältnisse ausgeblendet bleiben“ (Messerschmidt, 2011, S. 92): „Interkulturelle Kompetenz: Da haben nicht wir als Mehrheitsgesellschaft, sondern Eltern von Kindern mit Migrationshintergrund einiges aufzuholen.“ Die Gruppe, die dieses Item mit „Trifft zu“ und „Trifft eher zu“ von 31 % im ersten Studienabschnitt wertet, sinkt auf 25 % im zweiten Studienabschnitt ab.
Um angesichts sozialer Macht- bzw. Ungleichheitsverhältnisse diesen Blickwinkel zum Thema zu machen, werden im zweiten Schritt die Items dieser Erhebung und die Ergebnisse der durchgeführten Erhebung nun selbst zum Unterrichtsgegenstand der Lehrer/innenbildung. Dabei werden die Studierenden im Zuge von Seminaren der PH Wien in einer Unterrichtssequenz mit einzelnen Items des Fragebogens konfrontiert. Anschließend wird den Studierenden Einblick in die Ergebnisse der Erhebung gewährt: Kreisdiagramme zeigen gemäß Likertskala Trifft nicht zu, Trifft eher nicht zu, Trifft eher zu, Trifft zu oder „keine Angabe“ die vertretenen Einstellungen und Haltungen zu den einzelnen Items. Es hat sich in den bisherigen Diskussionen mit den Studierenden im Rahmen von Seminaren gezeigt, dass besonders Items, die markante Einschränkungen von Menschenrechten vornehmen – wie z. B. „Es besteht das Recht auf kulturelle Entfaltung, aber nur in den Maßen, in denen es für die Integration sinnvoll ist“ oder „Es besteht das Recht auf Versammlungsfreiheit, außer es wird bei diesen Versammlungen nicht mehrheitlich in unserer Landessprache gesprochen“ – sich für Diskussionen über das Spannungsfeld sozialer Macht- bzw. Ungleichheitsverhältnisse eignen. Im Plenum werden Konflikte in der Migrationsgesellschaft angesichts sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung und Praktiken der Ungleichbehandlung diskutiert. Ein Item wie „Schule bedeutet für Kinder mit Migrationshintergrund Integration: Es gelten Normen und Werte der christlich geprägten Kultur unseres Landes“ spiegelt im Rahmen dieser Diskussion die Schule als gesellschaftliche Institution. Es scheint in diesem Sinne für die Lehrer/innenbildung entscheidend, dass angehende Lehrkräfte bereits im Rahmen von Menschenrechtsbildung während ihrer Erstausbildung das Spannungsverhältnis aufspüren, in dem sie künftig agieren werden, wenn sie gesellschaftlich geforderte, aber gleichzeitig auch pädagogisch legitimierbare Ziele erreichen sollen.
Literatur
Casper, Gerhard (2008). The Concept of National Citizenship in the Contemporary World. Identity or Volition?Hamburg: Bucerius Law School 2008. Zugriff am 02.06.2019 unterhttps://web.stanford.edu/group/gcasper_project/cgi-bin/papers
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Bourdieu, P. (1982). Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp
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Feyerer, E. Dlugosch, A., Prammer-Semmler, E., Reibnegger, H., Niedermair, C., Hecht, P. (2013). Einstellungen und Kompetenzen von LehramtstudentInnen und LehrerInnen für die Umsetzung inklusiver Bildung (Deutsche Version von SACIE-R 2011). Zugriff am 02.06.2019 unter https://ph-ooe.at/fileadmin/Daten_PHOOE/Inklusive_Paedagogik_neu/Sammelmappe1.pdf
Forlin, C., Earle, C., Loreman, T. & Sharma, U., (2011). The Sentiments, Attitudes, and Concerns about Inclusive Education Revised (SACIE-R) Scale for Measuring Pre-Service Teachers Perceptions about Inclusion. Exceptionality Education International 21, S. 50-66.
Fukuyama, F. (2019). Identität. Hoffmann und Campe. Kindle-Version.
Hormel, U. & Jording, J. (2016). Kultur/Nation. In: Mecheril, P., Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz, S. 211-225.
Mecheril, P. & Lingen-Ali, U. (2017). Religion als soziale Deutungspraxis. Zugriff am 02.06 unter https://spezialprogramm.files.wordpress.com/2017/10/lingen-ali-ulrike-mecheril-paul-religion-als-soziale-deutungspraxis.pdf
Mecheril, P., Castro Varela, M., Dirim, İ., Kalpaka, A. & Melter, C. (Hrsg.) (2010): Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz.
Messerschmidt, A. (2011): Involviertes Forschen. In: Breinbauer, I. M. & Weiß, G. (Hrsg.) Orte des Empirischen in der Bildungstheorie: Einsätze theoretischer Erziehungswissenschaft II. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 81-95
Schäfer, A. (2016): Hegemonie. In: Mecheril et al., Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz. S. 90-105
Taylor, Ch. (2009): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Thomas-Olalde, O. & Velho, A. (2011): Othering and its Effects – Exploring the Concept. In: Niedrig, H. & Ydesen, C. (Hrsg.): Writing Postcolonial Histories of Intercultural Education. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 27-51
Wiesinger, S. (2018). Kulturkampf im Klassenzimmer: Wie der Islam die Schulen verändert. Bericht einer Lehrerin. Edition QVV. Kindle-Version.
[1] Fernab dieses Diskurses, besteht das Wissen, dass Menschen weltweit nach ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht, ihrer Nationalität, ihrer Sprache, ihrem Aussehen, ihrer Ethnizität oder ihrer sexuellen Orientierung beurteilt werden. Jedes Individuum erlebt dabei die Missachtung ihres*seines Wesens, die eigentlich durch Artikel 2 der Menschenrechtserklärung verhindert werden sollte, auf unterschiedliche Art, während es gleichzeitig nach der Anerkennung ihrer*seiner Würde in einer (selbst) erkorenen Gemeinschaft sucht.
[2] Ius Soli bedeutet, dass jeder, der auf dem Territorium eines Landes zur Welt kommt, automatisch Staatsbürger ist. Unter dem Ius Sanguinis wird die Staatsangehörigkeit durch die Abstammung festgelegt (Casper, 2008, S.1).
[3] Mit dem Begriff „Migrationsandere“ werden gemäß Konzepten der Migrationspädagogik Prozesse und Phänomene der Konstruktion, Bewältigung, Bewahrung und Veränderung natio-ethno-kultureller Differenz unter bestimmten Bedingungen in den Blick genommen. Dieser Begriff dient als ein begriffliches Werkzeug der „Konzentration, Typisierung und Stilisierung für eine in einer Migrationsgesellschaft als Andere geltende Person“ (Mecheril et al., 2010, S. 17).