Jedes Land hat die Schule, die es verdient

Es gibt eine bekannte Anekdote in Bergers und Luckmanns Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, in der Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ eine neue Interpretation erfährt. Die Pointe liegt darin, dass aus dem Beschriebenen deutlich wird, dass das Kind, das den Kaiser vor allen anderen als vollkommen unbekleidet entlarvt, einfach noch nicht ausreichend sozialisiert worden ist. Es weiß nicht mit welchen Annahmen, Normen und Geschichten eine gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit permanent gemacht wird (1966/1994, S.134-139). Sollte es der Wahrheit entsprechen, dass bei den derzeitig laufenden Koalitionsverhandlungen für eine neue Bundesregierung in Österreich im Zusammenhang mit Migration über „die "Kenntnis der deutschen Sprache" sowie die "Anerkennung unserer Werte" gesprochen wird, die als "Voraussetzungen für Zuzug" priorisiert werden“ (Der Standard, 2024), so scheint sich auch hier eine märchenhafte Vorstellung zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit zu etablieren. Unter „Deutsch vor Zuzug“ im Zusammenhang mit der Integrationsvereinbarung versteht das Innenministerium, dass Drittstaatsangehörige bei erstmaliger Beantragung eines bestimmten Aufenthaltstitels wie z.B. „Familienangehöriger“ bereits Deutschkenntnisse auf A1-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen nachweisen können (BMI, 2024). 
Anlässlich der derzeit laufenden Familienzusammenführung für Familienangehörige aus dem arabischen Raum und Nahen Osten erinnert das an Amjahid (2021), der bitterböse süffisant eine gesellschaftliche Brüskierung zur Fluchtbewegung anno 2016 wahrnahm: Im Grunde genommen nahm man es den Geflüchteten übel, dass sie nicht schon während sie auf den Trampelpfaden der Balkanroute liefen, in den Gehpausen das Deutschlernbuch eifrig studierten, um dann schon Deutsch zu können, wenn sie angekommen (und dann willkommen?) sind.
Die Verbindung von Deutschkenntnissen auf A1-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens mit der Integrationsgesetz-Durchführungsverordnung (IntG-DV) erhebt in Österreich die Integration zum moralischen Anspruch von jenen die sich als Mehrheitsgesellschaft empfinden. An die anderen ergeht der Appell: „Ihr“ müsst Deutsch lernen, euch an „unsere“ Regeln halten und aufhören, in der „Parallelgesellschaft“ zu leben (Terkessidis, 2017, S.9). Nationalismus fordert Homogenität ein, aber m.E. war keine Gesellschaft, schon gar nicht die österreichische, je homogen und stets heterogen oszillierend, in der parallel mehrere Millionen Menschen unterschiedlicher religiöser Konfessionen durchaus auch vielsprachig lebten, auch wenn das nun nicht über die schon damalige Dominanzkultur des Deutschen hinwegtäuschen soll.
 
„Österreich-Ungarn ist nicht mehr. Anderswo möchte ich nicht leben“, schreibt Sigmund Freud als das Kaiserreich 1918 zusammenbricht, „Ich werde mit dem ganzen Torso weiterleben und mir einbilden, dass er das Ganze ist“ (Freud zit. n. Lothar, 1960/2021), führt Freud weiter aus und Eva Illouz konstatiert dazu: „Tatsächlich hinterließen der Zusammenbruch des alten Reiches und die Gründung neuer nationaler, ethnisch homogener Heimatländer einen kopflosen Torso, der noch innen glühte, aber Stückwerk war“ (2024, S.247). In dieses Stückwerk neu geborener Nationen hat das zerfallene Reich ihre eigenen nationalen Erziehungssysteme eingerichtet; ein paar von ihnen, darunter ehemalige Kronländer wie das spätere SFR Jugoslawien sind dann weiter auseinandergefallen und haben aus einer ehemals mehrsprachigen Gesellschaft sukzessive Einzelnationen mit nationalen Identitäten und ihren dazugehörigen monolingualen Ansprüchen erschaffen, die sich im Fall vereinzelter Stimmen in Kroatien scheinbar auch tunlichst heute im österreichischen Bildungssystem widerspiegeln sollen (Hawlik, 2025). 


In diesen genannten Ländern und auch Übersee nach der erneuten Ernennung von Donald Trump zum US-amerikanischen Bundespräsidenten ist die von ihr gesellschaftlich entfachte Furcht eine Folge rechtspopulistischer Politik der Ressentiments. Angst haums. Sie grassiert nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft, sondern herrscht auch zwischen so genannten alteingesessenen Minderheiten und den neu zugezogenen oder anderweitig markierten Personen (Illouz, 2024, S.211). Rechtspopulisten schüren aber erst recht den Zorn der so genannten Mehrheitsgesellschaft, wenn sie ihr weismachen, dass besonders jene (meist mehrsprachige) Minderheiten angeblich unfairerweise vom Sozialstaat profitieren: „Wenn Neid mithin Gleichheit fordert und seine Schuldzuweisung an diejenigen richtet, die sich der Ungleichheit erfreuen oder sie verursachen, dann ist er ein Gefühl, das sich mit Zwecken der Demokratie deckt“ (S. 131). 
 
Die öffentliche österreichische Pflichtschule als gesamtgesellschaftliche Institution unserer Demokratie rückt in den Fokus des öffentlichen Diskurses, wenn sechsjährige Schüler*innen aus verschiedenen sozialen Schichten in der Primarstufe aufeinandertreffen. In einer Stadt wie Wien, in der 60 Prozent der Schüler*innen die in die Volksschule eingeschult werden, nicht nur Deutsch als Umgangssprache sprechen (Statistik Austria 2024), sollte sich schnell die Frage stellen, wer eigentlich Diese*r Normative*r Schüler*in sein soll, von der*dem im österreichischen Lehrplan und den parallel dazu produzierten Schulbüchern ausgegangen wird. 

Seit Kabinett Kurz I haben wir in Österreich MIKA-D (Messinstrument zur Kompetenzanalyse – Deutsch), mit dem ausschließlich Kinder mit anderer Erstsprache als Deutsch im Zuge der Schuleinschreibung hinsichtlich ihrer Schulsprachreife getestet werden, weil wir in einem Land leben, in dem - anscheinend wissenschaftlich erwiesen - kein einziges sechsjähriges Kind mit Erstsprache Deutsch lebt, das bei der Einschulung nicht die Verbendstellung im Nebensatz beherrscht. Daran stößt man sich nicht, denn Kinder mit anderer Erstsprache als Deutsch sind noch heute nicht die Norm. In Wien nicht und nicht anderswo in Österreich.

Da aber Österreich über ein höchst segregativ wirkendes und früh selektionierendes Schulsystem verfügt, haben wir mit der individuelle Kompetenzmessung PLUS (iKMplus) ein Instrument zur Erfassung fachbezogener und zur Einschätzung überfachlicher Kompetenzen von Schüler*innen am Ende der Primarstufe und am Ende der Sekundarstufe II entwickelt. Lehrpersonen erhalten dabei externe, objektive Informationen zum Lernstand von Einzelschüler*innen und zum Leistungsstand der Klasse insgesamt als weitere Grundlage für Unterrichts- und Förderplanung. Schulleitungen erfreuen sich an jährlich erhaltenen raschen Rückmeldungen zu Ergebnissen der Klassen und des Standorts und zusätzlich im Dreijahresrhythmus zusammengefasste Ergebnisberichte über drei Erhebungsjahre als Datengrundlage für strategische Steuerung, pädagogisches Konzept und Qualitätsmanagement. Bildungsdirektionen erhalten zusammengefasste Daten als Grundlage für regionale Bildungsplanung und standortbezogenes Qualitätsmanagement und das BMBWF schließlich erhält dreijährliche Systemberichte als Grundlage für Bildungsentwicklung, Bildungsmonitoring und Bildungscontrolling (IQS, 2024). Kurzum Bildungsdirektionen und das BMBWF erhalten viele Daten, die sich in bunte Balkendiagramme gießen lassen, während die Schulleitungen mit ihren Lehrkräften kosmetische Schulentwicklung an den eigenen Standorten betreiben. Am österreichischen Schulsystem ändert das grundlegend gar nichts, soll es scheinbar auch nicht.

Es wird gemessen, was man eigentlich schon weiß: Österreich ist ganz kirr auf die moralische Ideologie des Verdienstes, bei der die ungleiche Verteilung von Privilegien durch Unterschiede an Talent und harter Arbeit gerechtfertigt wird (Sandel, 2020; Illouz, 2024, S.167). Wir sind auf dem besten Weg zu US-amerikanischen Verhältnissen in unserem Erziehungssystem: „Durch die Standardisierung der Benotung hat es das Bildungssystem den Angehörigen der oberen Mittelschicht ermöglicht, ihre Kinder vergleichsweise gut auf diese Standards einzustellen, und damit deren im Vergleich zu Kindern aus weniger privilegierten Familien besseren Leistungen den Anstrich eines meritokratisch objektiven Ergebnisses verliehen“ (Illouz, 2024, S.90)  Es findet ein Klassenkampf statt, aber nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten. Es wird so viel Gewicht auf die individuelle Begabung und die intrinsische Motivation der Schüler*innen gelegt, dass nicht wahrgenommen wird, dass bei derzeitiger Ausgestaltung des Bildungssystems stets nur Schüler*innen aus einkommensstarken Schichten, bei denen sich die Erziehungsberechtigten oder die von ihnen finanzierten Nachhilfelehrer*innen um die Eigenen kümmern, für die ersehnten Schularten in der Sekundarstufe selektiert werden. Ungleichheiten werden reproduziert, strukturelle Benachteiligung verstärkt. Schule als Institution, die auf langfristige Verhaltensmuster ihrer Abgänger*innen baut, die nach etwas streben sollen, was sie einmal werden wollen, entlassen junge Menschen bar jeder Hoffnung. Bereits ab dem 10. Lebensjahr, wenn sie an weitere Schularten durchgereicht werden. Die Bildungspflicht in Österreich endet dann mit dem 18. Lebensjahr. Jahr für Jahr werden Schüler*innen, die die gewünschten Kompetenzen nicht haben, in Bildungsstätten getestet und getestet. Was strukturell getan werden muss, damit sich diese junge Menschen die Grundkompetenzen für ihr Leben aneignen, interessiert staatlich nur wenige. Darüber wird nicht gerne gesprochen: „Es gibt viele Gründe, warum Menschen die Auseinandersetzung mit beunruhigenden und unbequemen Informationen meiden. Sie scheinen aber von dem Bedürfnis abzuhängen, ein moralisch kohärentes Selbst zu bewahren und negative Emotionen zu vermeiden, vor allem Hilflosigkeit, Angst, Schuld, Scham und Furcht. Diese Emotionen sind für das Selbst potenziell zu überwältigend, um ein Gefühl der Integrität aufrechtzuerhalten.“ (S.367)

Täglich gehen von unseren Schulen Kinder und Jugendliche ab, die glauben, dass es ihnen an Können und Talent fehlt, um soziale Mobilität zu schaffen. Es bleiben enttäuschte Schüler*innen und als wäre das nicht trist genug, haben wir auch noch die von ihnen enttäuschten Lehrer*innen in der enttäuschten Institution Schule, von der alle im öffentlichen Diskurs insgesamt enttäuscht sind. So viel Enttäuschung in einer Welt die auf Hoffnung baut; die für Schüler*innen den Eindruck einer prinzipiellen Offenheit erwecken will. Dieser Umstand, der allen Beteiligten sotto voce bekannt ist, führt aber in Österreich leider bloß zu hitzig geführten Debatten im rauschenden Blätterwald der Tageszeitungen. Es nährt kurzfristig das ohnehin schnell abflauende Feuer gesellschaftlicher Empörung über die österreichische Schule. Es ist nie die Basis für überparteilich langfristige vereinbarte Maßnahmen zur Reform des österreichischen Bildungswesens – Asche auf das Haupt führender Politiker*innen aller Parteicouleurs in Österreich, die aktiv oder durch Inaktivität Reformen wie kostenlose ganztägige Beschulung in Gesamtschulen (Primarstufe, Sekundarstufe I) ohne versteckte Wohnbezirkssegregation verhindern! Ideal  wäre es, wenn gänzlich unabhängig von Nationalratswahlergebnissen unter der Führung des Bundespräsidenten das Bildungsministerium, die Bildungsdirektionen, die Gewerkschaften, tertiäre Bildungsstätten der Lehrer*innenbildung und fachkundige Expert*innen auf Augenhöhe gemeinsam mit einem Ziel vor Augen sukzessive und immer wieder (zwischen-)evaluierend über Jahrzehnte hinweg an einer Neustrukturierung des österreichischen Bildungssystems arbeiten würden, wie es beispielsweise in skandinavischen Ländern (wie z.B. Finnland) lange Zeit üblich war (Rautiainen und Kostiainen, 2018). Es ist wie es ist. Jedes Land hat die Schule, die es verdient. Wir bleiben zurück mit drei Hauptfragen aus Kants Philosophie: Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ mögen sich in diesem Zusammenhang intensiv die österreichischen Politiker*innen bei ihren Koalitionsverhandlungen stellen. Meinetwegen auch mithilfe von Balkendiagrammen. Uns allen gemeinsam bleibt die dritte Frage: „Was darf ich hoffen?“ 

 


Literatur
 
Amjahid, M. (2021). Der weiße Fleck. Eine Anleitung zu antirassistischem Denken. München: Piper

Berger, P. und Luckmann, T. (1966/1994). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Fischer

BMI (2024). Nachweis von Deutschkenntnissen („Deutsch vor Zuzug“ und Integrationsvereinbarung), https://www.bmi.gv.at/312/06/start.aspx (26.11.2024)

Der Standard (2024). Neos fordern in internem Verhandlungspapier "Regierungsmonitor", Deutsch vor Zuzug und Föderalismusreform. https://www.derstandard.at/story/3000000245616/neos-fordern-in-internem-verhandlungspapier-regierungsmonitor-deutsch-vor-zuzug-und-foederalismusreform, (26.11.2024)

Hawlik, R. (2025). Sind Initiativen zur Ausrichtung des Muttersprachlichen Unterrichts nach dem Konzept „Nation“ Ausdruck eines legitimen Kampfs um Anerkennung? In Sabine Guldenschuh et al (Hrsg.). Migrationspädagogische Perspektiven auf den erst-/herkunfts-/mutter-sprachlichen Unterricht. Wiesbaden: Springer Verlag, [in press]
 
Illouz, E. (2024). Explosive Moderne. Berlin: Suhrkamp
 
IQS (2024). Weiterentwicklung der nationalen Kompetenzmessungen – von der IKM zur iKMPLUS
https://www.iqs.gv.at/themen/nationale-kompetenzerhebung/ikm-plus/von-der-ikm-zur-ikm-plus (26.11.2024)
 
Lothar, E. (1960/2021). Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen. München: Hanser
 
Rautiainen, M und Kostiainen, E. (2018). School in Finland. In Marius Harring et al. Handbuch Schulpädagogik. Münster: Waxmann. S.236-S.243
 
Sandel, M. (2020). Vom Ende des Gemeinwohls. Frankfurt am Main: Fischer
 
Statistik Austria (2024). Statistisches Jahrbuch: Migration & Integration. Wien: Staatsverlag
 
Terkessidis, M. (2017). Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft. In Koch, Kolja, i.A. des IDA-NRW (Hg.) (2017): kontext.flucht. Perspektiven für eine rassismuskritische Jugendarbeit mit jungen geflüchteten Menschen, https://www.ida-nrw.de/fileadmin/user_upload/brosch_flyer/IDA-NRW_Reader_kontext.flucht.pdf, S.8-S.10 (26.11.2024)