Schule ist für sich selbst ein fragiles Gebilde, wenn jede einzelne Schulklasse zwar ein Ort sein will, an dem eine kleine Gesellschaft formal Gleicher versammelt wird, der ihnen Teilhabe an einer gemeinsamen 'Kultur' zu verschaffen verspricht, aber genau während desselben Prozesses zur Unterscheidung durch Selektion dient: Qualifikationen werden von Kindern und Jugendlichen verlangt und die für alle gleich geltenden Anforderungen dienen dabei zur Ausdifferenzierung. Die individuelle Aneignung der Qualifikationen durch die Schüler*innen dient der Integration in die Gesellschaft und sorgt damit insgesamt für ihre Reproduktion (vgl. Pöllemans & Gruschka, 2018, S.438), aber wie sollte es auch anders sein? - "Wie kann es in der Schule eine je besondere Individualität geben, wenn es doch um deren Verallgemeinerung geht?" (Pöllemans & Gruschka, 2018, S.442).
Eine Institution der Selektion lernt aber jetzt noch schnell moralisierend zu wirken: Es gilt die Schwächeren in der Gemeinschaft zu achten, ihnen zur Seite zu stehen; aber natürlich nicht wenn es um die Wahrung des vorgeblich meritokratischen Leistungsprinzips gilt: Bei Schularbeiten o.ä. darf der Stärkere dem Schwächeren nicht bei der Lösung von Aufgaben helfen, das wäre der Schule fremd und so wird "der bzw. die Einzelne [...] verantwortlich gemacht für den Wettbewerb wie für die ausgleichende Gerechtigkeit mit den in diesem Unterliegenden" (Pöllemans & Gruschka, 2018, S.445).
Solidarität als romantischer Begriff der Schulpädagogik ist so nicht zu retten, sie ist nur scheinheilig. Sie zielt nicht auf Veränderung oder eine mögliche Überwindung der strukturellen Bedingungen der Ungleichheit, die Schüler*innen trennen und verbinden. Solidarität entsteht in der Schulklasse, wenn in dieser räumlichen Reichweite von geteilter Verantwortung (Fraser, 2009) Verbundenheit entsteht. Wenn Solidarität als Schutz der "intersubjektiven Beziehungen reziproker Anerkennung, durch die sich die Individuen als Angehörige einer Gemeinschaft erhalten" (Habermas 1991, S. 16) verstanden wird. Sie entsteht, wenn Zugehörigkeit durch Verbundenheit gelebt wird. Wenn beständig im pädagogischen Prozess in einer Schulklasse an einer Verbundenheit gearbeitet wird, denn zwischen alter und ego steht die Frage: Zu wem möchte ich mich als Schüler*in in meiner Klasse eigentlich verbunden fühlen?
Pädagogische Arbeit zielt darauf ab, diese Zugehörigkeit jenseits der Konzepte „Nation“, „Ethnie“, „Religion“ zu gestalten. Sie nimmt solidarisch Bezug auf die Erfahrungen, Konzepte und Vorstellungen der Einzelnen, die sie gegenseitig vermittelt, sie verbindet. Wenn dann sukzessive und immer wieder als Heterotopie ein Raum entsteht, der in differenzierender Gleichheit (Mecheril et al, 2010) die Einzelnen achtet und doch das Gemeinsame hervorstreicht, liegt es an der Lehrkraft die politisch Bedeutsamkeit dieses Raums zu betonen und den Schüler*innen Momente der Verbundenheit als Solidarität zu verdeutlichen. Vielleicht ist so Solidarität als schulpädagogischer Begriff noch zu retten.
Literatur
Fraser, N. (2009): Scales of justice: Reimagining political space in a globalizing world. New York: Columbia University Press
Habermas, J. (1991). Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Marx, K. (1967): Einleitung [zur Kritik der politischen Ökonomie]. In: Marx Engels Werke Bd. 13. Berlin: Karl Dietz
Mecheril, P. et al (2010). Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz
Pöllemans, M. & Gruschka, A. (2018). Schulpädagogik. In Armin Bernhard (et al.). Handbuch Kritischer Pädagogik. Weinheim: Beltz Juventa. S.431- S.451
