Wie funktioniert Zweitspracherwerb bei einer wirkungsvollen Diversitätspädagogik?


Wirkungsvolle Diversitätspädagogik und gelebte Mehrsprachigkeit als Korrektiv in Primar- und Sekundarstufe

Kinder sind vielfältig. Sie sind Mädchen und Jungen, mit und ohne Migrationshintergrund, mit einer Behinderung oder ohne. Sie haben einen unterschiedlichen sozio-kulturellen Status und einen unterschiedlichen sozio-ökonomischen Status. Sie sprechen Sprachen, aber haben nicht unbedingt dieselbe Muttersprache.

Schule ist im besten Fall ein Schutzraum einer pluralistisch diversen Gesellschaft, in dem Schülerinnen und Schüler bewusst auf bestimmte Fragen, Probleme und Inhalte herangeführt werden. Wirkungsvolle Diversitätspädagogik zielt darauf ab, dass das Individuum in diesem Schutzraum die bestmögliche Bildung erwirbt und ein vielfältiges und demokratisches Zusammenleben erlebt und selbst gestaltet. Angestrebte Ziele der Diversitätspädagogik sind es, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle Menschen zu gewährleisten, wobei einerseits Diversität als Normalfall und Bereicherung verstanden wird, andererseits bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse kritisch reflektiert werden.

Bildung hat es zum Ziel, soziale Unterschiede der Menschen und Nachteile der Migranten auszugleichen. Das verdient, kritisch reflektiert zu werden: Kann das die öffentliche Schule im deutschsprachigen Europa derzeit wirklich leisten und von welchen "Migranten" ist hier eigentlich die Rede? Die letzten Grundschul-Vergleichsstudien PIRLS (Lesen) und TIMSS (Mathematik, Naturwissenschaften) haben erneut belegt, dass Bildung vererbt wird. Bildungssysteme im deutschsprachigen Europa sorgen derzeit für zu wenig Chancengleichheit, was sich insbesondere bei den schwachen Ergebnissen von "SchülerInnen und Schülern mit Migrationshintergrund" abzeichnete, wie in diversen Analyseberichten zu lesen war.

Eine Schule der Stadt Wien
Migrationshintergrund bei Schülerinnen und Schülern wird oft assoziiert mit einer anderen Erstsprache. Schülerinnen und Schüler, die eine andere Erstsprache (Language 1, abgekürzt: L1) haben und Deutsch als zweite Sprache (Language 2, abgekürzt: L2) in einem deutschsprachigen Land in einem natürlichen Umfeld und später in einem schulischen Umfeld erwerben, lernen Deutsch als Zweitsprache (DaZ).

Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind aber nicht zwingend DaZ-Schülerinnen und Schüler, denn in Wien stammen beispielsweise die meisten neuen Zuziehenden derzeit aus der Bundesrepublik Deutschland. DaZ-Schülerinnen und -Schüler, die bei Grundschul-Vergleichsstudien schlecht abschneiden, stammen auch eher selten aus Privatschulen. Wer Prestigesprachen (wie z.B. Englisch oder Französisch) als L1 spricht und eine dementsprechende Privatschule mitsamt einem international anerkannten Lehrplan besucht und sich das jährlich leisten kann, zählt selten zu den "Verlierern" in unseren Bildungssystemen deutschsprachiger Länder Europas.

Die Vielfalt eint angeblich Europa, aber wer bleibt in seiner Bildungskarriere auf der Strecke? Verlierer der Bildungssysteme im deutschsprachigen Europa sind häufig Schülerinnen und Schüler mit einer Minderheitensprache als Erstsprache. In großstädtischen Ballungsräumen des deutschsprachigen Europas wird schon seit Längerem konstatiert, dass in vielen städtischen Bezirken an öffentlichen Schulen die Schülerinnen und Schüler mit nicht deutscher Erstsprache in der Mehrheit sind.

Eine andere Erstsprache ist sicher ein Faktor für das schlechte Abschneiden von Schülerinnen und Schülern bei Grundschul-Vergleichsstudien, aber bedeutend schwerer als die Erstsprache wiegen der niedrige sozio-ökonomische und der benachteiligte sozio-kulturelle Status, die diese SchülerInnen und Schüler haben.

Bildung ist ein Versprechen des Mittelstands. Für den Mittelstand ist Bildung die höchst erstrebenswerte Voraussetzung für ein erfülltes Leben, während Bildung für die Eliten eher bedeutungslos scheint, weil sie entweder selbstverständlich oder überflüssig ist, (vgl. Liessmann 2014). Die Schicht mit benachteiligtem sozio-kulturellen und niedrigem sozio-ökonomischen Status, aus der zahlreiche SchülerInnen und Schüler mit anderer Erstsprache an öffentlichen Schulen kommen, hat wiederum ganz andere Werte und Ideale, nach denen sie ihre Lebenskonzepte ausrichten. 

Diese Konzepte entsprechen kaum den hehren Idealen des Mittelstands, der die Lehrerinnen und Lehrer stellt. Das Elternhaus, die direkte Wohnumgebung und die Gruppe der Gleichaltrigen prägen genau diese Schülerinnen und Schüler mit anderer Erstsprache, die in diesen sozio-ökonomisch bedrohten Umständen aufwachsen. Der Schutzraum Schule muss es sich zur Aufgabe stellen, hier als Korrektiv zu wirken.

Warum ist gelebte Mehrsprachigkeit wichtig?

Mehrsprachigkeit ist ein Aspekt einer wirkungsvollen Diversitätspädagogik, die den Unterschied ausmachen kann. An Elternabenden und bei Einzelgesprächen mit Eltern ist Mehrsprachigkeit als Vorteil zu verdeutlichen: Einsprachigkeit ist nicht die Norm unserer Welt und wer mehrere Sprachen spricht, ist im Vorteil. 

Viele Eltern und Kinder mit einer Minderheitensprache als L1 sind oftmals davon überzeugt, dass ihre Sprache nichts "wert" sei. Ein gängiges Beispiel in deutschsprachigen Großstädten Europas sind Menschen, die aus der Türkei kommen und eine der etwa zwanzig gängigen Sprachen sprechen. Diese Sprachen stehen in Konkurrenz zur offiziellen Staatssprache "Türkisch". Viele dieser Eltern geben ihre Muttersprache nicht bei der Schulanmeldung ihrer Kinder an, weil sie ihre Sprache für "minderwertig" halten.

Schule im deutschsprachigen Europa darf keinesfalls die Umgebung sein, die eine andere Sprache als Deutsch als minderwertig herabstuft. Das Selbstbewusstsein mehrsprachiger Eltern und ihrer Kinder leidet darunter. Besonders betroffen sind jene DaZ-SchülerInnen, die in ihrer Zweitsprache Deutsch alphabetisiert werden, bevor sie ihre Erstsprache völlig beherrschen, denn die “Interdependenz der sprachlichen und kognitiven Entwicklung stellt einen weiteren wichtigen Faktor beim L2-Erwerb dar.  Es gibt eine erwiesene Korrelation zwischen mangelhafter Sprachentwicklung und schwachem Selbstwertgefühl, wodurch es entweder zu einer Stockung oder sogar zu einer rückläufigen Entwicklung beim schulischen Lernen kommen kann” (Buttaroni 2011: 274).

Erfolg in der Zweitsprache ist maßgeblich von der Entwicklung der Erstsprache abhängig. Da viele DaZ-SchülerInnen mit Schuleintritt in die Primarstufe noch nicht im Besitz der notwendigen übertragbaren akademischen Fähigkeiten sind, plagen sie sich in der Schule. Genau deswegen benötigen Sie mehr Zeit im Vergleich zu Kindern, deren Erstsprachenfertigkeiten zum Transfer im schulischen Umfeld bereits zur Verfügung stehen (vgl. Buttaroni 2011). 

Mehrsprachigkeit ist im Sinne der Diversitätspädagogik als Ressource zu begreifen, an deren Ausbau und Weiterentwicklung es sich zeitlebens lohnt, weiterzuarbeiten.
Hier ist der Hebel anzusetzen, um in allen Lehrplanbereichen eine mehrsprachige Erschließung von Inhalten zu erzielen. Sei es mit verstärktem muttersprachlichen Unterricht, mit bilingualer Alphabetisierung oder gar dem Modell mehrsprachiger Alphabetisierung, das das Sprachförderzentrum Wien entwickelt hat.

In einem gelingenden L2-Erwerbsprozess im schulischen Kontext ist das Aktivieren des bereits erworbenen Wissens die ideale Basis. Zugang zu ausreichend verständlichen Input in der Zielsprache ist eine Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen L2-Erwerbsprozess im schulischen Kontext. Die Lernenden werden dadurch ermutigt, zeitlebens eine Vertiefung ihres Verständnisses von L2 zu erwerben, denn "Sprache bleibt ein soziales und kognitives Instrument für Interaktion, das - streng genommen - nicht gelehrt, sondern nur erworben werden kann" (Buttaroni 2011: 273).

Fazit

Der Grad des Verstehens und der Produktion beim Zweitspracherwerb von SchülerInnen und Schülern mit anderer Erstsprache unterscheidet sich mehr aufgrund individueller Variablen (sozio-kultureller Status, sozio-ökonomischer Status, Begabung, individueller Lernstil, schulische Entwicklung) als aufgrund der Unterschiede zwischen Erstsprache und Zweitsprache. Von großer Bedeutung für den Zweitspracherwerb in der Primarstufe ist ein verständlicher Input und die im Sinne der Diversitätspädagogik formulierte Ermutigung, SchülerInnen und Schüler stets darin zu bestärken, ihre Erstsprache weiter zu entwickeln, während sie ihre Zweitsprache erwerben.


Literatur

Susanna Buttaroni (2011). Wie Sprache funktioniert: Einführung in die Linguistik für Pädagoginnen und Pädagogen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag

Konrad Liessmann (2014). Geisterstunde. Wien: Zsolnay Verlag