Wozu Schule?

Wenn Bildung als intra-personales Verhältnis verstanden wird, das als Selbstbildung (Pongratz, 2010, S.26) sichtbar wird, dann ist sie etwas, woran der Mensch selbst arbeitet und die er sich selbst sukzessive aneignet. Insofern praktisch, als dass der Mensch auch nicht für andere lernen kann, sondern nur für sich selbst. Nur dumm, dass wir als Pädagog*innen nicht wissen, wie Lernen beim Menschen geschieht. Sichtbar ist beim schulischen Lernen nur, dass manche es scheinbar besser können als andere – ob das an Talent, an der Aneignungsdisposition durch Primärsozialisation für gewisse Lerninhalte, an den Lebensumständen oder in einem ausgewogenen Mischverhältnis an all diesen drei oder sogar noch mehr Faktoren liegt, ist ungesichert. Gesichert ist, dass sich hinter diesem Können – erbracht durch Leistungen oder Artefakte – die Vorstellung von Begabung versteckt. Der bereits mythische gewordene Slogan des Lebenslangen Lernens deutet jedenfalls an, dass Bildung der Anthropotechnik (Sloterdijk, 2009) bedarf: Der Mensch versteht sich als ein lebenslang Übender, der sich im Üben selbst erschafft. In dieser Sorge um sich selbst, nimmt der Mensch athletische Anstrengungen auf sich, um gegen eingeschliffene Gewohnheiten (S.304) in ihm vorzugehen, um das Vertikale anzustreben: eine neue Erkenntnis die höher liegt als die horizontale Basis, auf der er sich für gewöhnlich im alltäglichen Leben bewegt. Ist ein Plateau nach aller Mühe erreicht, geht es vertikal weiter nach oben. Es gleicht einem apollinischen Ideal, dem Sloterdijk auch seinen Werktitel gemäß Rilkes Gedicht entlehnt, das hier erreicht und gleichzeitig unerreichbar bleibt, weil das Lernen als Üben an sich selbst nie aufhört und nur sich selbst als Maßstab hat. Immer vertikal, immer weiter nach oben. Bildung ist „übend-asketische Selbstintensivierung“ (S.530).

Wenn Bildung so verstanden wird, ist sie eine sehr private Angelegenheit: Wozu haben wir als Pädagog*innen dann aber die öffentliche Schule auf der Agora unserer Städte als Arbeitsorte zugewiesen bekommen? Wozu auf der Basis all die paideía – wahlweise übersetzt als Kunst am Kind oder Technik der Kinderzurichtung? Es gibt laut Sloterdijk eine „Lehrerdämmerung, die zugleich eine anthropologische Dämmerung ist, bei der sich das Kind von einem bloßen Nachwuchsphänomen zu einem Akteur im Drama der Erziehung“ (S.310) wandelt. Im Staat vollzieht sich die Selbstsorge zur Sorge um andere; Kinder werden „zu Objekten einer Sorge, die sich zur veritablen Kunst entfaltet: der Kunst, Gewohnheitssteuerungen zu steuern und komplexe Kompetenzen auf einem Sockel automatisierter Übungen aufzubauen“ (S.311). Schule als Ort der Sekundärsozialisation, an dem Kinder beginnen, den Habitus des lebenslangen Lernens zu üben - „hinter dem Pädagogen erkennt man hier, noch kaum verhohlen, die Gestalt des Dompteurs – wie ja hinter aller Belehrung die Dressur steht“ (ebd.). Die Trägheit der Schüler*innen muss täglich überwunden werden. In die hexis geht es für die Einzelnen nur durch üben, üben und üben über. Pädagog*innen als magische Welterklärer*innen zeigen ihren Zöglingen vollends motivierend die Bereiche, die es zu beherrschen gilt. Sie befähigen die Schüler*innen durch dieses ständige Üben darin, sich auf der vom Staat entwickelten Basis (Lehrplan) zu entwickeln, sich selbst zu kultivieren: „Die Heranbildung von Nie-Hilflosen bildet das Ziel aller paideía (...) nichts kommt dem praktischen Ideal des Polis-Bürgers (...) so nahe wie der Entwurf eines Menschen, der immer im Training ist und sich in jeder Lage zu helfen weiß“ (S. 453). Trägt dieses Training der Anthropotechnik –  auch der Einfachheit halber 'Unterricht' genannt – Früchte, braucht es keine Kaninchen mehr, die aus dem Zylinder gleiten, denn dann „entzaubern die Zauberer sich selbst und verwandeln sich in Lehrer. Sie sind die Provokateure der Zukunft, die die Katapulte für Würfe ins Übergewöhnliche bauen“ (S.301). Bei aller staatlicher Schulbildung und die ist trotz Humboldt seit dem 19. Jahrhundert als „Distinktionsmerkmal eines aufstrebenden (...) Bürgertums zu werten“ (Borst, 2013, S.3), bleibt das Ziel für wahrhaftige Bildung im neuhumanistischen Verständnis die Selbstbildung. Über die bloße Abrichtung hinaus müssen nach dem Bildungsgang ehemalige Schüler*innen eigenständig eine Laufbahn und/oder eine eigene Vertikalität finden. Wem aber gelingt der Wurf ins Übergewöhnliche? 


Vor dem Wurf hapert es schon an der Laufbahn. Als Wort lässt es schon an die Kieselsteine auf dem Belag denken. Besonders seit die Aufklärung uns das öffentliche Schulwesen als gesellschaftliche Institution brachte: Schule ist der Ort, an dem die Leistungen – der in Räumen nach militärischem Drill tage- und wochenweise zusammengepferchten Schüler*innen – durch die empirische Bildungswissenschaft wirklich im athletischen Stil gemessen werden: Besonders nach der Outputorientierung gemäß PISA 2000 vergeht kaum ein schweißtreibendes Schuljahr in der Karriere eine*r Schüler*in, in dem nicht allerlei Leistungen (un-)standardisiert mit Items gemessen werden. Vorgeblich meritokratisch beseelt (Liu, 2023), führt der Weg für die Kinder vertikal von der Primarstufe zur Zentralmatura in der Sekundarstufe II; Schule verleiht Titel (Bourdieu 1979/1982) – in Österreich gibt es bei jeder vierten Schulstufe ein Sprungbrett: 4.,8.,12.; in berufsbildenden Schulen darf man bis 13 zählen. Schule sorgt mit ihrer Allokationsfunktion (Fend, 1980) dafür, dass ihre Eleven schließlich als Laufbahn in den Berufen (und tertiären Bildungsstätten) zurechtkommen, für die sie ausgebildet wurden: „Der Staat kümmert sich um den minder Tauglichen auch minder“, schreibt Herbart schon 1832, „Seine Schulen sollen ihm die Subjekte liefern, die er braucht. Er wählt die brauchbarsten; die übrigen mögen für sich sorgen“ (Herbart zit. n. Sloterdijk 2009, S. 543). So einfach liegt es also schon seit jeher nicht mit der Laufbahn für den Einzelnen, der am Ende der Schulkarriere in den Fluss des Lebens gesprungen ist. Dem jungen Menschen steht das Wasser bis zum Hals: Laufbahn? Welche Bahn soll ich jetzt laufen oder wo verläuft hier eigentlich die Bahn? Ist das alles nicht undurchsichtig?

Mal abgesehen von der Selbstbildung, soll mich diese schulische Bildung von heute nicht befähigen, im Leben Fuß zu fassen? Was ist aber, wenn sich Schule für ihre Schüler*innen als degradierend herausstellt. Eine Schule, die im Leerlauf operiert, wie sie Pongratz beschreibt (2010, 44–46): Eine Schule, die den stummen Zwang der Dominanzkultur in allen Poren ausströmt. In so einer Schule ist für jene, die diese Kultur nicht bereits habitualisiert haben, nichts zu holen. Was du zuhause gelernt hast, ist wenig wert. Wie du zuhause sprichst, ist nichts wert. Du interessierst dich nicht für (meinen) Unterricht, weil du stellst keine Fragen und hast keine (oder die falschen) Interessen, weil du ständig nur auf dein Handy schaust. Das wird ihnen Tag für Tag implizit vermittelt, als wäre das der geheime institutionelle Lehrplan einer gesamtgesellschaftlichen Institution. Es ist verheerend, wenn intersubjektive Anerkennung als reziproke Bewegung in der Schule für Kinder und Jugendliche ausbleibt. Sie ist es die man im Erziehungsprozess „als ein Lernen am eigenen und am fremden Anderen bezeichnen könnte“ (Borst, 2003, S. 222). Kindheit die auch in Schule gelebt wird, findet in einem Raum statt, in dem die Chance zur Entwicklung von Selbstvertrauen als Bedingung der Möglichkeit von Selbstachtung und Selbstwertgefühl (Honneth, 1994) mitgegeben werden muss, damit diese Kinder und Jugendliche überhaupt in den Stand versetzt werden, ihren Beitrag an der Mitgestaltung ihrer gemeinsamen Welt zu leisten (vgl. Borst, 2003, S. 217). 

Die Schule im Leerlauf ist aber eine Schule, in der sich schon Sechsjährige beim ersten Eintritt komplett unverstanden und verloren fühlen und mit der Zeit einen Widerwillen und eine Aggression dagegen entwickeln. Eine Schule, in der Lehrkräfte nicht sehen, dass Kinder und Jugendliche in Haushalten aufwachsen, in denen sie in erster Linie gehorsam und still sein müssen, um den Erziehungsberechtigten zu gefallen. Das ist ein Zuhause, das nur selten von einem angeregten Frage-und-Antwort-Spiel gekennzeichnet war, das hingegen Kinder aus der Mittelschicht schnell ab der Schuleingangsphase wiedererkennen (Harris, 2012, S.35). Nur weil diese Kinder keine Fragen stellen, wie sie Lehrkräfte gerne hören, heißt es nicht, dass sie sich hier nicht gerne wohlfühlen wollen würden. Kinder stellen in der Schule sowieso weniger Fragen als daheim, weil es andere Erwachsene sind und weil Schule im Gegensatz zu Zuhause landläufig als Ort bekannt ist, an dem mehrere Kinder gleichzeitig in das Gespräch mit einem (oder zwei) Erwachsenen gehen (S.44). Aber warum sollten manche Kinder überhaupt Fragen an Lehrkräfte stellen wollen, von denen sie sich unverstanden fühlen? So eine Schule ist eine Schule im Leerlauf, in der einige Schüler*innen sich nur um ihres eigenen Friedens willen, wie daheim ruhig verhalten, korrigierenden Mahnungen der Lehrkraft geschickt ausweichen, und am Schluss wirklich alle – samt der Lehrkraft – täglich darauf warten, bis die Kustodialfunktion erfüllt ist: Wir wurden heute aufbewahrt, jetzt dürfen wir wieder nach Hause gehen. 

Es ist eine traurige österreichische Schule, die niemanden erreicht, und nicht mal daheim ist man vor ihr im internationalen Vergleich sicher, denn in ihr „wird nicht gelernt, was es für die Schule braucht. Das Pensum ist im Vergleich dreimal so hoch wie woanders und die Mitarbeit des umgebenden sozialen Systems wird vorausgesetzt.“ (Hopmann, 2023). Erreicht die Pflichtschule noch ihre schulpflichtigen Kinder und Jugendliche? Kann sie das überhaupt bei dem notorischen Ausbleiben von finanziellen Mitteln, die es bräuchte, damit jedes Kind in Österreich über Allgemeinbildung (Lehrplaninhalte gemäß Pflichtabschluss) tatsächlich verfügt und sie anwenden kann? „Die Unterfinanzierung sowie die systematische Verunglimpfung des (...) Bildungssystems  [wirkt wie] eine politische Strategie, Ökonomisierung und Privatisierung voranzutreiben“ (Borst, 2013, S.8). Ist öffentliche Schule doch bloß l’art pour l’art: Unter kräftiger Beteiligung der Erziehungsberechtigten mit edlem Leistungsgedanken bei Abhaltung von unterrichtlichen Exerzitien zur Reproduktion sozialer Klassen gedacht.  

Natürlich braucht es Schule. Ein paar brauchen sie mehr als andere, aber genau für die hat die öffentliche Hand ihr Bestes zu geben. Ohne Zweifel ist es für Lehrer*innen mühsam und anstrengend allen ihren Schüler*innen einen verlässlichen Ort autoritativen Erziehungsstils zu bieten, in dem es klare Regeln gibt, aber an dem auch gleichzeitig viel Fürsorge, Liebe, Wärme, Wertschätzung und Unterstützung geboten wird. In ihr und an ihr ist Tag für Tag zu arbeiten. Zunächst mit den Schüler*innen immer wieder an den entscheidenden Verhaltensdispositionen – ruhig sitzen können, jetzt nicht reden, nicht schreien, nicht schlagen – (Reichenbach, 2025, S.176) und parallel dazu an den Kulturtechniken, die wieder und wieder geübt werden. Das Handwerk des Lebens in der Schule und für die Schule. Die Lehrkraft mit ihrer Personalität spielt dabei die entscheidende Rolle, sie ist sich dessen bewusst und muss stolz darauf sein – „Manche Kinder und Jugendliche haben die Lehrperson sehr viel nötiger als andere. Sie brauchen deren Enthusiasmus, Zuversicht, Geduld und Heiterkeit. Diese scheinbaren ‚weichen‘ Faktoren, welche der Bildungsforschung wenig zugänglich sind, wirken auch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs etwas altbacken und tugendhaft. Tatsächlich sind sie aber die solideste Grundlage für eine gerechtere Schule, das ist eine Schule, die keine Schule der Privilegierten sein soll“ (S.129).

 

Literatur

Borst, Eva (2003). Anerkennung der Anderen und das Problem des Unterscheidens. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren
Borst, Eva (2013). Schule 2.0. Über den Bildungsbegriff. Verfügbar unter: https://www.allgemeine-erziehungswissenschaft.uni-mainz.de/files/2014/11/Borst_Berlin_Die_Gruenen.pdf [21.02.2025]
Bourdieu, Pierre (1979/1982). Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 
Fend, Helmut (1980). Theorie der Schule. München: Urban & Schwarzenberg
Harris, Paul L. (2012). Trusting what you're told. Cambridge: Harvard University Press
Hopmann, Stefan (2023). Raus aus den Bildungs-Missverständnissen (Interview).  Verfügbar unter: https://www.art-science-krems.at/2023/04/20/bildungsgerechtigkeit/ [22.01.2025]
Honneth, Axel (1994). Der Kampf um Anerkennung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 
Liu, Catherine (2023). Die Tugendpächter. Frankfurt am Main: Westend
Pongratz, Peter (2010). Sackgassen der Bildung. Paderborn: Schöningh
Reichenbach, Roland (2025). Die Pädagogik der Privilegierten. Stuttgart: Kohlhammer
Sloterdijk, Peter (2009). Du sollst dein Leben ändern. Frankfurt am Main: Suhrkamp.